Aus:
Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Theil.
Tübingen 1811

Man hatte zu der Zeit noch keine Bibliotheken für Kinder veranstaltet. Die Alten hatten selbst noch kindliche Gesinnungen, und fanden es bequem, ihre eigene Bildung der Nachkommenschaft mitzutheilen. Außer dem Orbis pictus des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Hände; aber die große Foliobibel, mit Kupfern von Merian, ward häufig von uns durchblättert; Gottfrieds Chronik, mit Kupfern desselben Meisters, belehrte uns von den merkwürdigsten Fällen der Weltgeschichte; die Acerra philologica that noch allerlei Fabeln, Mythologien und Seltsamkeiten hinzu; und da ich gar bald die Ovidschen Verwandlungen gewahr wurde, und besonders die ersten Bücher fleißig studirte: so war mein junges Gehirn schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt, und ich konnte niemals lange Weile haben, indem ich mich immerfort beschäftigte, diesen Erwerb zu verarbeiten, zu widerholen, wieder hervorzubringen.
Einen frömmern sittlichern Effect, als jene mitunter rohen und gefährlichen Alterthümlichkeiten, machte Fenelons Telemach, den ich erst nur in der Neukirchischen Übersetzung kennen lernte, und der, auch so unvollkommen überliefert, eine gar süße und wohlthätige Wirkung auf mein Gemüth äußerte. Daß Robinson Crusoe sich zeitig angeschlossen, liegt wohl in der Natur der Sache; daß die Insel Felsenburg nicht gefehlt habe, läßt sich denken. Lord Ansons Reise um die Erde verband das Würdige der Wahrheit mit dem Phantasiereichen des Mährchens, und indem wir diesen trefflichen Seemann mit den Gedanken begleiteten, wurden wir weit in alle Welt hinausgeführt, und versuchten ihm mit unsern Fingern auf dem Globus zu folgen. Nun sollte mir auch noch eine reichlichere Ernte bevorstehen, indem ich an eine Masse Schriften gerieth, die zwar in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht vortrefflich genannt werden können, deren Inhalt jedoch uns manches Verdienst voriger Zeiten in einer unschuldigen Weise näher bringt.

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