Erich Kästner
Jugend, Literatur, Jugendliteratur
(Rede, gehalten am 4. Oktober 1953 im Rathaus Zürich)

 

Es war in jenen Jahren, als die jungen Leute, obgleich viel radikaler als heutzutage, noch Ehrfurcht empfanden oder doch Respekt besaßen. Freilich, warum und vor wem soll die Jugend heute Respekt haben? Angesichts einer zerbrochenen, unbelehrbaren und von echten Idealen und Vorbildern nahezu chemisch gereinigten Welt? Auch wenn der Großteil der Schuld uns, die Älteren treffen mag, und träfe die Schuld uns ganz allein - der Schwund des Respekts, der Verlust der Ehrfurcht und der aufrechten Demut sind Wetteranzeichen einer Katastrophe, die verhütet werden muß. Das ist keine Redensart. Sonst wären wir nicht hier. Die Jugend braucht Vorbilder, wie sie Milch, Brot und Luft braucht. Und sie braucht frische Milch, frisches Brot und frische Luft. Was also braucht sie für Vorbilder? [...] Die Umwertung der Werte ist mißlungen. Und eine wertfreie Welt wäre eine wertlose Welt. Aus dem Panorama der menschlichen Gesellschaft wurde ein Panoptikum. Darin kann man den Stachanowmenschen bewundern, ferner den Homo cornedbeefiensis, den Menschen als bewegliche Uniform, den Roboter mit dem Rückwärtsgang, den Menschen als aufrechtgehende Kaumaschine und andere Zerrbilder mehr. Der Balg des letzten Individuums wird soeben ausgestopft und soll, im naturkundlichen Museum, neben den Dinosauriern und anderen ausgestorbenen Experimenten der Schöpfung seine Aufstellung finden. [...] Ehe und Familie, die man lange und guten Glaubens für unteilbare Elemente der menschlichen Gesellschaft hielt, verlieren ihren elementaren Charakter. Der soziologische Atomzerfall macht auch vor ihnen nicht halt Der Jugend kann, in unserer desolaten Welt, nur helfen, wer an die Menschen glaubt. Er hat kaum Anlaß, an die abgewerteten Zeitgenossen zu glauben. [...] Doch er muß einen gelungeneren Entwurf vom Menschen vor Augen haben. Das hat nichts mit Schönfärberei zu tun. Und er muß an die Erziehbarkeit der Jugend zu solchen Menschen glauben. Weder Nihilismus noch Schwärmerei sind dabei seine Sache. Er hat das Museum der abgelebten Werte besichtigt. Er war in den Treibhäusern, worin künstliche Werte gezüchtet werden. Und er weiß, daß es, wenn auch nicht dort und nicht da, doch noch ein paar echte Werte gibt: das Gewissen, die Vorbilder, die Heimat, die Ferne, die Freundschaft, die Freiheit, die Erinnerung, die Phantasie, das Glück und den Humor. Diese Fixsterne leuchten noch immer über und in uns. Und wer sie der Jugend weist und deutet, zeigt ihr den Weg aus ihrer Schweigsamkeit und unserer Gegenwart in eine freundlichere Welt, die wir, die Großen, sehen, aber nicht mehr betreten dürfen. Wir sind arm geworden. Mehr und anderes als dieses gestirnte Firmament und einen Wunsch auf den Weg können wir der Jugend nicht vererben. Doch wer soll ihr die Sterne zeigen und deuten? Wer soll den Zauber der Heimat und den Glanz der Ferne heraufbeschwören? Wer soll ihr den Kompaß des Gewissens in die Hand drücken? Wer soll ihr das Land der Erinnerungen verheißen? Wer soll ihr die neuen Märchen erzählen? Wer soll für sie die Vorbilder aufrichten, keine großen Denkmäler, aber Denkmäler der Größe? Wer soll ihr Herz zum Lachen bringen? Doch, um alles in der Welt, nicht jene mediokern Leute die "nur" Kinderbücher fabrizieren? Doch nicht jene Ahnungslosen, die, weil Kinder erwiesenermaßen klein sind, in Kniebeuge schreiben?

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