Der Schwan und der Storch.
Aus: Samuel Richardson, Sittenlehre für die Jugend in den auserlesensten äsopischen Fabeln, mit dienlichen Betrachtungen zur Beförderung von Religion und der allgemeinen Menschenliebe.
[Übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing]
Leipzig 1757

 

Der Schwan und der Storch.

Ein Storch, der den Gesang eines sterbenden Schwans mit anhörte, sagte ihm, daß es wider alle Natur sey, in solchen Umständen zu singen, und war begierig, die Ursache davon zu wissen. Da ich jetzt, antwortete der Schwan, in einen Stand treten soll, in welchem ich weder Hunger, noch den Gefahren der Verfolgung länger ausgesetzt seyn werde, kann ich wohl anders, als mich über eine so glückliche Veränderung freuen?

Lehre.


Der Tod ist die gewisse Befreyung von allen Beschwerlichkeiten, Leiden und Gefahren des Lebens.

Betrachtung.

Es ist eine große Thorheit, das zu fürchten ,was man unmöglich vermeiden kann; noch eine weit größere Thorheit aber ist es, die Befreyung von allem Uebel zu fürchten; denn der Tod erlöset uns von allen Krankheiten, und entladet uns aller Sorge. Doch ist es auch eine eben so große Thorheit, uns auf sein unvermeidliches Schicksal nicht vorzubereiten. Wir müssen eben so gewiß wieder aus der Welt, als gewiß wir herein gekommen sind; und nichts, als das Bewußtseyn eines guten Lebens, ist uns in den letzten Stunden zu trösten vermögend. Die Erdichtung von dem Sterbeliede des Schwans soll, nach ihrer versteckten Bedeutung, nichts als eine Aufmunterung seyn, unser Ende so heiter und vergnügt seyn zu lassen, als es nur möglich ist, und dabey zu bedenken, wenn der Tod, als eine Befreyung von den Sorgen, Beschwerlichkeiten und Gefahren eines unruhigen Lebens, auch schon den Thieren angenehm ist, für was für einen weit größeren Segen ihn jeder Tugendhafte zu halten habe, welcher nicht allein von allen Versuchungen, Fallstricken und Zerstreuungen einer bösen Welt dadurch erlöset, sondern auch zugleich in den Besitz eines ewigen Friedens, und in den Genuß unvergänglicher Freuden, versetzt wird.

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