I. Der Umschwung in der öffentlichen
Erziehung und die Jugendlektüre
<S. 4>
"Die Schule bringt im Kindesleben eine Revolution hervor.
Unsere Schulpädagogik ist noch weit davon entfernt, den Tätigkeitstrieb
der Kinder zur Grundlage und zum Ausgangspunkt ihrer Maßnahmen
zu machen. Nun lernt das Kind das Stillesitzen und das Lesen.
Diese beiden der Kindernatur wenig entsprechenden Fähigkeiten
sind die Vorbedingungen der Lektüre. Im Kinde selbst kommt
der Trieb, Geschichten zu hören, jenen beiden Gewöhnungen
entgegen - und die Lesewut bricht wie eine Pest über das
arme Kind herein. Im vorschulpflichtigen Alter erzählte die
Mutter dem Kinde Geschichten, und so wurde das epische Bedürfnis,
wenn auch vielleicht nicht immer auf das beste, doch auf natürlichem
Wege befriedigt. An der Zeit, die der Mutter zur Verfügung
stand, und an dem Umfang ihres epischen Schatzes fand die Lust
des Hörens ihre Grenzen. Anders bei der Lektüre. Das
Buch hat immer Zeit, der Bücherschatz ist nicht zu erschöpfen.
Ein stiller Winkel - und das lesende Kind hat sein Paradies. Jetzt
tritt eine Verbildung ein, die alle natürlichen Verhältnisse
auf den Kopf stellt. Was das Kind naturgemäß lieben
sollte, Bewegung und Spiel, verliert gegenüber der Lektüre
den Reiz; was dem Kinde eine Lust war, in körperlicher Arbeit
seine Kräfte und seine Sinne, ja seinen Geist zu gebrauchen,
wird ihm zur Qual; es wird unlustig zu Spiel und Arbeit, und selbst
der Unterricht hat nur selten den Vorteil von der alle Kräfte
absorbierenden Lektüre."
II. Der Leseunterricht und die freie
Lektüre
<S. 12>
"Unterhaltung in der Form der Dichtung - in diesem Begriff
liegt das ganze Elend der Jugendschriftstellerei beschlossen.
So streng, ja instinktiv der Leseunterricht die Unterhaltungsliteratur
von seinen Stoffen ausschließt, so unbeschränkt herrscht
sie in der freien Lektüre der Kinder, selbst in der aus der
Schülerbibliothek bezogenen. Diese unglaubliche Inkonsequenz
kann nur aus einer Unterschätzung, ja Geringschätzung
der Dichtkunst erklärt werden. Daß die Schule die Unterhaltungslektüre
in ihren Stunden nicht duldet, hat keineswegs einen literarischen
Grund: man will die gesunde Denkweise und die Arbeitslust des
Kindes nicht gefährden. Man trägt Bedenken, in der Schulstunde
eine Sache zu treiben, die in ihrer unbeaufsichtigten Ausübung
moralisch bedenklich werden kann. Unter dieser moralischen Betrachtungsweise
leidet auch der Leseunterricht, sofern er poetische Stoffe bearbeitet.
Die Stoffauswahl ist der Behandlung vorausgeeilt. Es gibt, wie
bemerkt, einen festen Be-stand dichterischer Erzeugnisse, die
in keinem Lesebuche fehlen; aber die Erkenntnis, daß das
Ge-dicht da ist, um genossen zu werden, und daß die Behandlung
nicht mehr und nicht weniger als die Einführung in seinen
poetischen Genuß bezweckt, hat sich noch lange nicht überall
Bahn gebrochen."
III. Die Aufgabe der poetischen Jugendlektüre
<S. 18f.>
"Aber die Zahl der Schriften, aus denen die Jugend Gewinn
[S. 19] für Wissen und Charakter ziehen kann, ist verschwindend
klein gegenüber der Unmasse von Jugendschriften, welche Belehrung
und Veredelung in unangemessener Form anstreben. Es ist jedermann
klar, daß es absurd wäre, die Entwicklung des Maikäfers
in Form eines Dramas oder einen chemischen Prozeß in der
Form eines lyrischen Gedichts darzubieten. Nicht so einig ist
das Urteil, wenn, wie häufig geschieht, ein Autor verspricht,
die Geschichte des 30jährigen Krieges in Romanform zu lehren
oder die Verwerflichkeit der Trägheit und die Ersprießlichkeit
des Fleißes in novellistischer Form eindringlich vor Augen
zu stellen. Sicherlich verdienen solchen Endabsichten alles Lob,
aber der Weg ist verwerflich. Die Dichtkunst kann und darf nicht
das Beförderungsmittel für Wissen und Moral sein. Sie
wird erniedrigt, wenn sie in den Dienst fremder Mächte gestellt
wird. Gegenwärtig sind es, den politischen Zeitverhältnissen
entsprechend, mehr der Patriotismus und die Religion, die das
Gewand der dichterischen Form für ihre Zwecke mißbrauchen.
Der größte Teil der spezifischen Jugendliteratur besteht
aus Tendenzschriften. Und wenn eine Tendenzschrift unter Umständen
eine große Tat, vielleicht auch nach der künstlerischen
Seite hin, darstellt, so ist sie doch in Rücksicht auf die
geringe Urteilsfähigkeit der Kinder in der Jugendliteratur
durchaus zu verwerfen."
<S. 20>
"Wollen wir die Jugend zum Genießen erziehen, so müssen
wir ihr Bücher geben, die sie um des Genusses willen liest.
Das sind die Erzählungen, Märchen, Sagen, Gedichte,
kurz Bücher in dichterischer Form. Ein solches Buch soll
das Kind genießen. Nun fehlt aber dem Kinde Maß und
Urteil, und so wie wir die Genüsse seines Gaumens auswählen
und regeln müssen, so auch die des ästhetischen Sinnes.
Die elendste Indianergeschichte kann dem Kinde hohen Genuß
gewähren. Die Überfülle gewalttätiger Ereignisse,
die übermenschlichen Kraftnaturen, das Pathos der Sprache
- diese wesentlichsten Merkmale der Indianergeschichte, wie des
Hintertreppenromans begegnen im Kinde einem lebhaften Bedürfnis.
Die Befriedigung desselben gewährt dem Kinde Genuß,
und derselbe wird nicht, wie bei literarisch Geschulten, gestört
durch den Sinn für das Maß und durch Bedenken der Logik
und der Erfahrung. Die literarische Genußfähigkeit
ist im Kinde nur in der Anlage vorhanden, und aus diesem Keim
kann ich ebensogut den starken herrlichen Baum, wie kriechendes
Gestrüpp ziehen."
IV. Die intellektuellen und moralischen Wirkungen der Jugendlektüre
V. Die Grundsätze der bisherigen Jugendschriftenkritik
VI. Zur Charakteristik der gangbaren
Jugendlektüre
Bearbeitungen
Kirchengläubige Theologen aus vor- und nachmärzlicher
Zeit als Jugendschriftsteller
Gustav Nieritz und Franz Hoffmann
Patriotische Jugendschriften aus dem neuen Deutschen Reiche
<S.121>
"Zu den unerfreulichsten Dingen, die im Gefolge des deutsch-französischen
Krieges über die politisch geeinte Nation heraufkamen, gehört
auch eine neue Hochflut der Jugendliteratur. Wohl unterschied
sie sich wesentlich von den früheren Hochfluten, nur nicht
im Wesentlichen, in der Qualität. Ein neuer Stoff war aufgegangen
und wurde von Jahr zu Jahr mehr ausgenutzt. Auch die Tagesliteratur
stand erst unter den kriegerischen Eindrücken: aber bald
war das vorüber und die Belletristik trottete gemächlich
im alten Geleise wieder dahin. Die Jugendliteratur hat, begünstigt
durch eine von oben her scharf betonte nationale Richtung in der
öffentlichen Erziehung, die nationalen Stoffe bis in die
Gegenwart immer gründlicher ausgenutzt. Von den kriegerischen
Ereignissen, die zur Gründung des Deutschen Reiches geführt
hatten und die natürlich für die immer kriegerisch gesinnte
Knabenwelt die zugkräftigsten Stoffe boten, hat sich die
Jugendliteratur im allgemeinen mehr und mehr der Vergangenheit
Deutschlands zugewandt."
Indianergeschichten in vornehmen Gewande
Jugendschriftstellerinnen
<S. 178-181>
"Wo faß ich die, unendliche - Unnatur? Ich muß
jetzt einige Worte über Emmy von Rhodens 'Trotzkopf', eine
Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen, die in einer
großen Reihe von Auflagen erschienen ist, sagen und weiß
nicht, womit ich beginnen soll. Franz Hirsch schreibt der zweiten
Auflage ein Vorwort und rühmt an dem Buche die Vorzüge,
die es vor der 'neuesten Unterhaltungsliteratur für die Jugend,
in welcher sich allerlei Unnatur und Tendenz breit macht', voraus
habe. Wenn man in diesem Vorwort mehr sehen will als eine der
verstorbenen Freundin erwiesene Dankespflicht, so muß man
es ein starkes Stück nennen, den 'Trotzkopf' als aus der
gewöhnlichen Jugendliteratur für junge Mädchen
hervorragend zu bezeichnen. [...] so wird man eingestehen, daß
es dem mäßig starken Bande an Motiven, die z. T. Themen
zu nennen sind, da sie zu dem Hauptmotiv des Buches keine Beziehung
haben, nicht mangelt. In dieser Fülle von Themen besteht
der gefährliche Reiz, den das Buch auf junge literarisch
ungeschulte Mädchen ausübt. Es ist nicht im eigentlichen
Sinne spannend geschrieben - das verhindert schon die Unzahl der
Stoffe -, aber in dieser stofflichen Mannigfaltigkeit fesselt
und drückt dem jungen Geiste schlechte Normen ein. Wie die
Komposition beschaffen sein muß, brauche ich nicht auszuführen.
Die Charakteristik verläuft ganz in Äußerlichkeiten.
Im Hause ist Ilse ganz Naturwüchsigkeit und Trotz; aber jene
geht dabei nicht über das äußerliche Gebaren,
über Kleidung, Hundeliebhaberei und Reiten hinaus; dieser
ist nur Ungehorsam gegen-über den Anordnungen der Mutter.
Nirgends fällt ein Licht in die Seele dieses Kindes, dessen
Seltsamkeiten angeflogen erscheinen. Auch in der Pension richtet
sich dessen Erziehung nur auf das äußere Gebaren, auf
Ordnung, anständiges Essen, respektvolles Benehmen gegen
die Vorsteherin usw. Die 'junge Dame', die nach Hause zurückkehrt,
hat dementsprechend außer einer drolligen Naivität
nichts, das sie von Dutzenden ihrer Schwestern, wie sie unsere
Familienjournale füllen, unter-schiede. Ihre englische Freundin
Nelly spricht im ganzen Buch nicht einen Satz richtiges Deutsch,
obwohl ihrem unermüdlichen Plappermäulchen nirgends
ein Wort fehlt; genau besehen spricht die Engländerin ein
korrektes Deutsch, nur daß sie konsequent in jedem Satz
ein oder zweimal Ge-schlecht und Kasus falsch anwendet [...].
Die andern Pensionärinnen treten immer nur mit einem einzigen
Charakterzug auf. [...] Man muß gestehen, daß das
Geplauder der jungen Mädchen gut nach der Natur wiedergegeben
ist; um so gedrechselter sind die Reden der Lehrer und Lehrerinnen.
Die pedantische Würde, mit der die alltäglichsten Sachen
vorgetragen werden, ist zum Lachen. Das soll nicht etwa Karikatur
sein; nichts liegt der Verfasserin bei der schwergeprüften
und doch allzeit freundlichen Lehrerin und dem edlen Deutschlehrer
ferner. - In dem ganzen Buche ist nicht ein voller Ton, der aus
der Tiefe kommt; es ist alles oberflächliches Geschwätz
und Getue. Fast bedauert man, die Episode mit dem kleinen sterbenden
Schauspielerkind in diesem Buche zu finden; hier ist ein guter,
nicht abgebrauchter Stoff; hier sind einige leise anklingende
Herzenstöne. Die Stoffe erinnern mehrfach an Stormsche Novellen.
Wer die literarische Qualität dieser Art Backfischliteratur
abwägen will, ziehe einmal durch Selbstlesen die Vergleiche.
Wie tiefgründig ist das Problem der Stiefmutter in Storms
Viola tricolor behandelt! Was hier ein Ringen der Seelen auf Leben
und Tod ist, bleibt bei Emmy von Rohden auf Benehmen und Gehorsam
beschränkt. Man vergleiche einmal eine Weihnachtsschilderung
bei Storm ('Unter dem Tannenbaum') mit der lang ausgesponnenen
Episode im 'Trotzkopf' Man sucht in dieser dünnen Suppe,
die Emmy von Rohden uns gekocht, nach einem Bröcklein. Was
man findet und dankbar genießt, ist eine Reihe banaler Überraschungen.
Keine Spur des herrlichen Schimmers, der für uns alle über
Weihnachten liegt. Weite Strecken öden Gepappels, abgerissener
Einzelheiten, während bei Storm jeder Satz, ja jedes Wort
ein eigenes Behagen, ein eigenes Leben ausströmt. [...] Wir
haben die herrlichsten Sachen, goldschimmernde Schätze und
Kleinodien und behängen den Frühling unseres Volkes
mit ödem Tand."
<S.191f.>
"Selbst in dem besten Spyrischen Werke, 'Heidi', geht die
große Charakterisierungskunst, die auf guter Beobachtung
des Lebens beruhen muß, in die Brüche, sobald religiöse
Mächte eingeführt werden. Das Alpenkind Heidi hat in
Frankfurt das Beten gelernt. Selbst angenommen, daß das
religiöse Bewußtsein dem Kinde schon in Fleisch und
Blut übergegangen ist, darf es als unpsychologisch bezeichnet
werden, wenn von den Wirkungen des zum erstenmal auf dem Heimweg
wiedergeschauten Alpenglühens auf ihre Seele erzählt
wird: [...]. Die Alpenwelt war ihr ein und alles, in Frankfurt
ihr einziger Gedanke. Plötzlich wird ihre Sehnsucht gestillt,
sie hat ihr Glück wieder, ist ganz voll davon. Da sollte
ihr die eben gelernte religiöse Übung auch nur einfallen?
Ja, wenn sie noch diese Rückkehr als eine Folge ihrer frankfurter
Gebetsübungen betrachten konnte; aber sie weiß, daß
der Doktor ihre Heimreise veranlaßt hat. In der Bekehrungsgeschichte
des Alm-Öhi spielt das kleine Heidi eine wenig glaubhafte
Rolle. Woher plötzlich eine solche Reflexionsfähigkeit
und Lehrhaftigkeit? Auch die Bekehrung des Alten selbst kommt
ganz unvermittelt, ergibt sich aus dem Gang der Ereignisse nicht
mit Notwendigkeit. Was hat der Mann überhaupt gegen den lieben
Gott, daß er jahrelang mit ihm und seiner Welt hadert und
nun durch das Gerede eines 9jährigen Kindes in wenigen Minuten
so umgewandelt wird, daß er in reuigem Gebet zusammenknickt?
Hier hat die Verfasserin ein Motiv eingeführt, das ihre Kräfte
übersteigt."
VII. Literarisch wertvolle Lektüre
für die Jugend
<S. 218>
"Das Lesen soll erst da beginnen, wo das Kind imstande ist,
uneigentliche Ausdrücke zu würdigen und abstrakte Begriffe
zu erfassen. Das wird etwa um das 12. Lebensjahr herum der Fall
sein. Wer seine Kinder schon vorher der freien Lektüre überlassen
will, halte sich an die Dichter und ernstzunehmenden Schriftsteller,
die mit Vorsatz sich zur Jugend heruntergelassen haben. Robert
Reinick, Rudolf Löwenstein, Hoffmann von Fallersleben, Julius
Lohmeyer, Hans Trojan, Julius Sturm, Viktor Blüthgen u.a.
haben in der deutschen Literatur einen Namen. [...]
<S. 219>
Für die früheste Lektüre des Kindes haben in neuester
Zeit, etwa seit 1900, Dichter von Ruf und Lehrer mit poetischer
Begabung Bücher auf den Markt gebracht, die entgegen dem
Stormschen Wort "für die Jugend geschrieben sind"
- und doch vollen Anspruch auf literarische Qualität erheben.
(Ich nenne hier Dehmels 'Fitzebutze', Falkes 'Katzenbuch' und
'Vogelbuch', sowie Scharrelmanns ' Aus Heimat und Kindheit und
glücklicher Zeit').