Heinrich Wolgast:
Das Elend unserer Jugendliteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend von H.W. Dritte Auflage (5.-6. Tausend). Leipzig, Berlin: Teubner 1905.

I. Der Umschwung in der öffentlichen Erziehung und die Jugendlektüre
<S. 4>
"Die Schule bringt im Kindesleben eine Revolution hervor. Unsere Schulpädagogik ist noch weit davon entfernt, den Tätigkeitstrieb der Kinder zur Grundlage und zum Ausgangspunkt ihrer Maßnahmen zu machen. Nun lernt das Kind das Stillesitzen und das Lesen. Diese beiden der Kindernatur wenig entsprechenden Fähigkeiten sind die Vorbedingungen der Lektüre. Im Kinde selbst kommt der Trieb, Geschichten zu hören, jenen beiden Gewöhnungen entgegen - und die Lesewut bricht wie eine Pest über das arme Kind herein. Im vorschulpflichtigen Alter erzählte die Mutter dem Kinde Geschichten, und so wurde das epische Bedürfnis, wenn auch vielleicht nicht immer auf das beste, doch auf natürlichem Wege befriedigt. An der Zeit, die der Mutter zur Verfügung stand, und an dem Umfang ihres epischen Schatzes fand die Lust des Hörens ihre Grenzen. Anders bei der Lektüre. Das Buch hat immer Zeit, der Bücherschatz ist nicht zu erschöpfen. Ein stiller Winkel - und das lesende Kind hat sein Paradies. Jetzt tritt eine Verbildung ein, die alle natürlichen Verhältnisse auf den Kopf stellt. Was das Kind naturgemäß lieben sollte, Bewegung und Spiel, verliert gegenüber der Lektüre den Reiz; was dem Kinde eine Lust war, in körperlicher Arbeit seine Kräfte und seine Sinne, ja seinen Geist zu gebrauchen, wird ihm zur Qual; es wird unlustig zu Spiel und Arbeit, und selbst der Unterricht hat nur selten den Vorteil von der alle Kräfte absorbierenden Lektüre."

II. Der Leseunterricht und die freie Lektüre
<S. 12>
"Unterhaltung in der Form der Dichtung - in diesem Begriff liegt das ganze Elend der Jugendschriftstellerei beschlossen. So streng, ja instinktiv der Leseunterricht die Unterhaltungsliteratur von seinen Stoffen ausschließt, so unbeschränkt herrscht sie in der freien Lektüre der Kinder, selbst in der aus der Schülerbibliothek bezogenen. Diese unglaubliche Inkonsequenz kann nur aus einer Unterschätzung, ja Geringschätzung der Dichtkunst erklärt werden. Daß die Schule die Unterhaltungslektüre in ihren Stunden nicht duldet, hat keineswegs einen literarischen Grund: man will die gesunde Denkweise und die Arbeitslust des Kindes nicht gefährden. Man trägt Bedenken, in der Schulstunde eine Sache zu treiben, die in ihrer unbeaufsichtigten Ausübung moralisch bedenklich werden kann. Unter dieser moralischen Betrachtungsweise leidet auch der Leseunterricht, sofern er poetische Stoffe bearbeitet. Die Stoffauswahl ist der Behandlung vorausgeeilt. Es gibt, wie bemerkt, einen festen Be-stand dichterischer Erzeugnisse, die in keinem Lesebuche fehlen; aber die Erkenntnis, daß das Ge-dicht da ist, um genossen zu werden, und daß die Behandlung nicht mehr und nicht weniger als die Einführung in seinen poetischen Genuß bezweckt, hat sich noch lange nicht überall Bahn gebrochen."

III. Die Aufgabe der poetischen Jugendlektüre
<S. 18f.>
"Aber die Zahl der Schriften, aus denen die Jugend Gewinn [S. 19] für Wissen und Charakter ziehen kann, ist verschwindend klein gegenüber der Unmasse von Jugendschriften, welche Belehrung und Veredelung in unangemessener Form anstreben. Es ist jedermann klar, daß es absurd wäre, die Entwicklung des Maikäfers in Form eines Dramas oder einen chemischen Prozeß in der Form eines lyrischen Gedichts darzubieten. Nicht so einig ist das Urteil, wenn, wie häufig geschieht, ein Autor verspricht, die Geschichte des 30jährigen Krieges in Romanform zu lehren oder die Verwerflichkeit der Trägheit und die Ersprießlichkeit des Fleißes in novellistischer Form eindringlich vor Augen zu stellen. Sicherlich verdienen solchen Endabsichten alles Lob, aber der Weg ist verwerflich. Die Dichtkunst kann und darf nicht das Beförderungsmittel für Wissen und Moral sein. Sie wird erniedrigt, wenn sie in den Dienst fremder Mächte gestellt wird. Gegenwärtig sind es, den politischen Zeitverhältnissen entsprechend, mehr der Patriotismus und die Religion, die das Gewand der dichterischen Form für ihre Zwecke mißbrauchen. Der größte Teil der spezifischen Jugendliteratur besteht aus Tendenzschriften. Und wenn eine Tendenzschrift unter Umständen eine große Tat, vielleicht auch nach der künstlerischen Seite hin, darstellt, so ist sie doch in Rücksicht auf die geringe Urteilsfähigkeit der Kinder in der Jugendliteratur durchaus zu verwerfen."
<S. 20>
"Wollen wir die Jugend zum Genießen erziehen, so müssen wir ihr Bücher geben, die sie um des Genusses willen liest. Das sind die Erzählungen, Märchen, Sagen, Gedichte, kurz Bücher in dichterischer Form. Ein solches Buch soll das Kind genießen. Nun fehlt aber dem Kinde Maß und Urteil, und so wie wir die Genüsse seines Gaumens auswählen und regeln müssen, so auch die des ästhetischen Sinnes. Die elendste Indianergeschichte kann dem Kinde hohen Genuß gewähren. Die Überfülle gewalttätiger Ereignisse, die übermenschlichen Kraftnaturen, das Pathos der Sprache - diese wesentlichsten Merkmale der Indianergeschichte, wie des Hintertreppenromans begegnen im Kinde einem lebhaften Bedürfnis. Die Befriedigung desselben gewährt dem Kinde Genuß, und derselbe wird nicht, wie bei literarisch Geschulten, gestört durch den Sinn für das Maß und durch Bedenken der Logik und der Erfahrung. Die literarische Genußfähigkeit ist im Kinde nur in der Anlage vorhanden, und aus diesem Keim kann ich ebensogut den starken herrlichen Baum, wie kriechendes Gestrüpp ziehen."

IV. Die intellektuellen und moralischen Wirkungen der Jugendlektüre

V. Die Grundsätze der bisherigen Jugendschriftenkritik

VI. Zur Charakteristik der gangbaren Jugendlektüre
Bearbeitungen
Kirchengläubige Theologen aus vor- und nachmärzlicher Zeit als Jugendschriftsteller
Gustav Nieritz und Franz Hoffmann
Patriotische Jugendschriften aus dem neuen Deutschen Reiche
<S.121>
"Zu den unerfreulichsten Dingen, die im Gefolge des deutsch-französischen Krieges über die politisch geeinte Nation heraufkamen, gehört auch eine neue Hochflut der Jugendliteratur. Wohl unterschied sie sich wesentlich von den früheren Hochfluten, nur nicht im Wesentlichen, in der Qualität. Ein neuer Stoff war aufgegangen und wurde von Jahr zu Jahr mehr ausgenutzt. Auch die Tagesliteratur stand erst unter den kriegerischen Eindrücken: aber bald war das vorüber und die Belletristik trottete gemächlich im alten Geleise wieder dahin. Die Jugendliteratur hat, begünstigt durch eine von oben her scharf betonte nationale Richtung in der öffentlichen Erziehung, die nationalen Stoffe bis in die Gegenwart immer gründlicher ausgenutzt. Von den kriegerischen Ereignissen, die zur Gründung des Deutschen Reiches geführt hatten und die natürlich für die immer kriegerisch gesinnte Knabenwelt die zugkräftigsten Stoffe boten, hat sich die Jugendliteratur im allgemeinen mehr und mehr der Vergangenheit Deutschlands zugewandt."
Indianergeschichten in vornehmen Gewande
Jugendschriftstellerinnen
<S. 178-181>
"Wo faß ich die, unendliche - Unnatur? Ich muß jetzt einige Worte über Emmy von Rhodens 'Trotzkopf', eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen, die in einer großen Reihe von Auflagen erschienen ist, sagen und weiß nicht, womit ich beginnen soll. Franz Hirsch schreibt der zweiten Auflage ein Vorwort und rühmt an dem Buche die Vorzüge, die es vor der 'neuesten Unterhaltungsliteratur für die Jugend, in welcher sich allerlei Unnatur und Tendenz breit macht', voraus habe. Wenn man in diesem Vorwort mehr sehen will als eine der verstorbenen Freundin erwiesene Dankespflicht, so muß man es ein starkes Stück nennen, den 'Trotzkopf' als aus der gewöhnlichen Jugendliteratur für junge Mädchen hervorragend zu bezeichnen. [...] so wird man eingestehen, daß es dem mäßig starken Bande an Motiven, die z. T. Themen zu nennen sind, da sie zu dem Hauptmotiv des Buches keine Beziehung haben, nicht mangelt. In dieser Fülle von Themen besteht der gefährliche Reiz, den das Buch auf junge literarisch ungeschulte Mädchen ausübt. Es ist nicht im eigentlichen Sinne spannend geschrieben - das verhindert schon die Unzahl der Stoffe -, aber in dieser stofflichen Mannigfaltigkeit fesselt und drückt dem jungen Geiste schlechte Normen ein. Wie die Komposition beschaffen sein muß, brauche ich nicht auszuführen. Die Charakteristik verläuft ganz in Äußerlichkeiten. Im Hause ist Ilse ganz Naturwüchsigkeit und Trotz; aber jene geht dabei nicht über das äußerliche Gebaren, über Kleidung, Hundeliebhaberei und Reiten hinaus; dieser ist nur Ungehorsam gegen-über den Anordnungen der Mutter. Nirgends fällt ein Licht in die Seele dieses Kindes, dessen Seltsamkeiten angeflogen erscheinen. Auch in der Pension richtet sich dessen Erziehung nur auf das äußere Gebaren, auf Ordnung, anständiges Essen, respektvolles Benehmen gegen die Vorsteherin usw. Die 'junge Dame', die nach Hause zurückkehrt, hat dementsprechend außer einer drolligen Naivität nichts, das sie von Dutzenden ihrer Schwestern, wie sie unsere Familienjournale füllen, unter-schiede. Ihre englische Freundin Nelly spricht im ganzen Buch nicht einen Satz richtiges Deutsch, obwohl ihrem unermüdlichen Plappermäulchen nirgends ein Wort fehlt; genau besehen spricht die Engländerin ein korrektes Deutsch, nur daß sie konsequent in jedem Satz ein oder zweimal Ge-schlecht und Kasus falsch anwendet [...]. Die andern Pensionärinnen treten immer nur mit einem einzigen Charakterzug auf. [...] Man muß gestehen, daß das Geplauder der jungen Mädchen gut nach der Natur wiedergegeben ist; um so gedrechselter sind die Reden der Lehrer und Lehrerinnen. Die pedantische Würde, mit der die alltäglichsten Sachen vorgetragen werden, ist zum Lachen. Das soll nicht etwa Karikatur sein; nichts liegt der Verfasserin bei der schwergeprüften und doch allzeit freundlichen Lehrerin und dem edlen Deutschlehrer ferner. - In dem ganzen Buche ist nicht ein voller Ton, der aus der Tiefe kommt; es ist alles oberflächliches Geschwätz und Getue. Fast bedauert man, die Episode mit dem kleinen sterbenden Schauspielerkind in diesem Buche zu finden; hier ist ein guter, nicht abgebrauchter Stoff; hier sind einige leise anklingende Herzenstöne. Die Stoffe erinnern mehrfach an Stormsche Novellen. Wer die literarische Qualität dieser Art Backfischliteratur abwägen will, ziehe einmal durch Selbstlesen die Vergleiche. Wie tiefgründig ist das Problem der Stiefmutter in Storms Viola tricolor behandelt! Was hier ein Ringen der Seelen auf Leben und Tod ist, bleibt bei Emmy von Rohden auf Benehmen und Gehorsam beschränkt. Man vergleiche einmal eine Weihnachtsschilderung bei Storm ('Unter dem Tannenbaum') mit der lang ausgesponnenen Episode im 'Trotzkopf' Man sucht in dieser dünnen Suppe, die Emmy von Rohden uns gekocht, nach einem Bröcklein. Was man findet und dankbar genießt, ist eine Reihe banaler Überraschungen. Keine Spur des herrlichen Schimmers, der für uns alle über Weihnachten liegt. Weite Strecken öden Gepappels, abgerissener Einzelheiten, während bei Storm jeder Satz, ja jedes Wort ein eigenes Behagen, ein eigenes Leben ausströmt. [...] Wir haben die herrlichsten Sachen, goldschimmernde Schätze und Kleinodien und behängen den Frühling unseres Volkes mit ödem Tand."
<S.191f.>
"Selbst in dem besten Spyrischen Werke, 'Heidi', geht die große Charakterisierungskunst, die auf guter Beobachtung des Lebens beruhen muß, in die Brüche, sobald religiöse Mächte eingeführt werden. Das Alpenkind Heidi hat in Frankfurt das Beten gelernt. Selbst angenommen, daß das religiöse Bewußtsein dem Kinde schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, darf es als unpsychologisch bezeichnet werden, wenn von den Wirkungen des zum erstenmal auf dem Heimweg wiedergeschauten Alpenglühens auf ihre Seele erzählt wird: [...]. Die Alpenwelt war ihr ein und alles, in Frankfurt ihr einziger Gedanke. Plötzlich wird ihre Sehnsucht gestillt, sie hat ihr Glück wieder, ist ganz voll davon. Da sollte ihr die eben gelernte religiöse Übung auch nur einfallen? Ja, wenn sie noch diese Rückkehr als eine Folge ihrer frankfurter Gebetsübungen betrachten konnte; aber sie weiß, daß der Doktor ihre Heimreise veranlaßt hat. In der Bekehrungsgeschichte des Alm-Öhi spielt das kleine Heidi eine wenig glaubhafte Rolle. Woher plötzlich eine solche Reflexionsfähigkeit und Lehrhaftigkeit? Auch die Bekehrung des Alten selbst kommt ganz unvermittelt, ergibt sich aus dem Gang der Ereignisse nicht mit Notwendigkeit. Was hat der Mann überhaupt gegen den lieben Gott, daß er jahrelang mit ihm und seiner Welt hadert und nun durch das Gerede eines 9jährigen Kindes in wenigen Minuten so umgewandelt wird, daß er in reuigem Gebet zusammenknickt? Hier hat die Verfasserin ein Motiv eingeführt, das ihre Kräfte übersteigt."

VII. Literarisch wertvolle Lektüre für die Jugend
<S. 218>
"Das Lesen soll erst da beginnen, wo das Kind imstande ist, uneigentliche Ausdrücke zu würdigen und abstrakte Begriffe zu erfassen. Das wird etwa um das 12. Lebensjahr herum der Fall sein. Wer seine Kinder schon vorher der freien Lektüre überlassen will, halte sich an die Dichter und ernstzunehmenden Schriftsteller, die mit Vorsatz sich zur Jugend heruntergelassen haben. Robert Reinick, Rudolf Löwenstein, Hoffmann von Fallersleben, Julius Lohmeyer, Hans Trojan, Julius Sturm, Viktor Blüthgen u.a. haben in der deutschen Literatur einen Namen. [...]
<S. 219>
Für die früheste Lektüre des Kindes haben in neuester Zeit, etwa seit 1900, Dichter von Ruf und Lehrer mit poetischer Begabung Bücher auf den Markt gebracht, die entgegen dem Stormschen Wort "für die Jugend geschrieben sind" - und doch vollen Anspruch auf literarische Qualität erheben. (Ich nenne hier Dehmels 'Fitzebutze', Falkes 'Katzenbuch' und 'Vogelbuch', sowie Scharrelmanns ' Aus Heimat und Kindheit und glücklicher Zeit').

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