Matthias Däumer
Jochen Schmidt:
Müller haut uns raus.
Schilderung einer
Leseerfahrung
"Aber der Inhalt wurde doch bei Büchern völlig überschätzt."
Dies liest man schon auf der achten Seite von Jochen Schmidts erstem Roman Müller haut uns raus. Dieser Satz ist Programm, denn der Plot scheint oberflächlich betrachtet eher herkömmlich:
Im Prolog erwacht der Protagonist Jochen Schmitt (mit -tt) an einem Morgen des Jahres 1998 mit einem Grinsen im Gesicht, das nicht verschwinden will. Und das, obwohl ihm alles andere als zum Grinsen zumute ist, denn seine Freundin Polly hat am Vorabend die Beziehung mit Jochen für beendet erklärt, weil er in seinem neusten Roman aus ihr eine amerikanische Jüdin machte, die einen Leberfleck im Nacken hat, der eigentlich auf Pollys Meerschweinchen prangt. Alle Beschwichtigungen à la: "Das ist doch reine Phantasie!" sind vergeblich und so geht Jochen am nächsten Tag als Single freudlos grinsend ins Krankenhaus. Dort wird ihm dargelegt, dass die Gründe für seine Gesichtsverspannung, im Medizinischen Periphere Facialis Parese genannt, psychosomatisch sein müssen. So beginnt Jochen eine Selbsttherapie, indem er sein bisheriges Beziehungsleben an seinem inneren Auge Revue passieren lässt.
Die Erzählung beginnt im Post-Wende-Ostberlin des Jahres 1990. Dort lebt Jochen nach seinem Militärdienst in einer Szene linker dilettantierender Künstler und startet, seinem Vorbild Heiner Müller folgend, erste Schreibversuche. Er lernt hierüber Judith kennen, verbringt immer mehr Zeit mit ihr und steckt plötzlich, ohne sich dessen bewusst zu sein, in seiner ersten Beziehung. Er beginnt Mathematik zu studieren, lässt dies allerdings schnell wieder sein, weil er doch lieber den Literaturnobelpreis und nicht den Physiknobelpreis erhalten will. Deshalb nimmt er an literarischen Wettbewerben teil und schreibt sich für Romanistik ein.
Die Beziehung zu Judith wird immer mehr von Trennungen dominiert. Erst reist sie für ein Praktikum in die Schweiz. Dort kann Jochen sie noch besuchen, indem er mit dem Fahrrad (!) zu ihr fährt. Die zweite Trennung ist dann eine unüberwindliche, denn Judith reist mit Freunden durch die Vereinigten Staaten und die sind mit dem Fahrrad und ohne Geld bekanntlich schwer zu erreichen. Während der Abwesenheit seiner Freundin zieht sich Jochen aufs Land zurück. Als Judith zurückkehrt scheint die Beziehung schon am Ende zu sein, doch die beiden versuchen sie zu retten, indem sie gemeinsam ins französische Brest ziehen.
Der zweite Teil des Romans stellt die Tristesse eines gemeinsam-einsamen Lebens in Brest dar. Die Beziehung zu Judith hängt tagtäglich am seidenen Faden, das Geld wird immer knapper und Jochens Französisch reicht nicht aus, um soziale Kontakte zu knüpfen. Er rettet sich in die Kreativität. So kann er sich wenigstens in der Rolle des frustrierten Dichters ein wenig selbst gefallen. Als er die vorausgefahrene Judith zu Weihnachten in Deutschland besucht, sitzt diese schon mit einem neuen Freund unterm Tannenbaum und Jochen fährt alleine nach Brest zurück. Dort zieht er nachts saufend mit französischen Bekannten durch die Clubs und tagsüber steigert er sich in einen Lernwahn, um bei seiner Rückkehr nach Deutschland das Französische zu beherrschen. Eines Abends lernt er die Spanierin Lucía kennen und stolpert in seine zweite Beziehung. Seine Sprachbegeisterung stürzt sich nun auf das Spanische, doch auch dies ist nur von kurzer Dauer, denn nach einem Besuch bei Lucía in Spanien endet auch diese Beziehung sang- und klanglos. Hat man als Leser nach dieser zweiten Freundin schon das Gefühl, die Handlung würde sich stets wiederholen, wird diese Ahnung Sicherheit, wenn Jochen in Berlin die amerikanische Jüdin Deborah kennenlernt, ihr nach New York folgt, dort eine Begeisterung für das Jiddische entwickelt und gerade als er sich entschlossen hat, zum Judentum zu konvertieren, ist die Beziehung auch schon zu Ende. Der Leser ist auf der letzten Seite angelangt und kann sich einer gewissen Enttäuschung und Ratlosigkeit nicht erwehren. Der Plot kehrt nicht zum Ausgangspunkt zurück, es wird keine Kur für die Periphere Facialis Parese gefunden, Jochen entwickelt sich nicht zum Literaturnobelpreisträger, sondern gibt das Schreiben schon in Brest völlig auf und die Erfahrung der erfüllten Liebe bleibt ihm auch verwehrt.
‚Doch halt! Wie war noch mal der letzte Satz?' "Im Fahrstuhl erschrak ich fast, als ich im Spiegel mein diebisches Grinsen sah". Diebisches Grinsen? Das ist doch dasselbe wie am Anfang, oder? Und redet nicht die Freundin Polly davon, dass sie die Beziehung beendet, weil Jochen aus ihr eine amerikanische Jüdin machte, also Deborah. ‚Irgendwas stimmt hier doch nicht!', denkt man sich, und beginnt trotz der Enttäuschung den dreihundertfünfzigseitigen Roman von vorn und entdeckt, dass man wirklich den Inhalt von Büchern überschätzt. Es geht hier um etwas anderes als das, was einem die Geschichte oberflächlich zu bieten hat. Doch um was?
Wenn Deborah die Schlüsselfigur der Polly im Prolog ist, dann handelt der Prolog also auf einer anderen Fiktionsebene als Teil 1-3 des Romans. Die Gesichtsverspannung des Jochen Schmitts im Prolog liegt also begründet in dem Roman den er schrieb, den der Leser liest, wenn auch anfänglich irregeführt in der Annahme, es handle sich um die Erinnerungen des sich selbst therapierenden Grinsegesichts. Jochens eigene Fiktion ist also der Grund für seine Krankheit, er überträgt den letzten Satz seiner Fiktion, das diebische Grinsen, in sein reales Leben.
Die Konsequenz der Inkonsequenz
Stilistisch hat der Roman nicht viel zu bieten. Die Sprache ist sehr einfach, dem zeittypischen Realismus einer Ich-Erzählung verpflichtet, der nur an einigen Stellen durchbrochen wird von surrealen assoziativen Bildern, die jedoch eher unmotiviert und deplatziert wirken. Ein weiterer stilistischer Fauxpas sind die unbegründeten Tempuswechsel, die sich gerade im zweiten Teil des Romans häufen. Plötzlich wird das Präteritum für wenige Sätze aufgegeben zugunsten einer grammatischen Gegenwart, die allerdings weiterhin das laufende Geschehen schildert. Außerdem wird die Haupthandlung von vielen Episoden durchbrochen, die narrativ komplett unnötig sind und die Erzählung äußerst sprunghaft erscheinen lassen. Alles in allem fehlt dem Roman also die grundlegende Konsequenz. Doch dies wiederum ist (so paradox es auch klingen mag) sehr konsequent.
Denn erstens ist Jochen ein Blatt im Winde der dominanten Freundinnen und unfähig, sein Leben selbstständig und kohärent auszurichten und zweitens ist dieser stilistische Mangel genau der, den ihm sein bester Freund Anselm mehrere Male in Bezug auf Jochens eigenes Schreiben vorwirft. Stil und Inhalt stimmen also überein.
Thematisierungen der Inkonsequenz finden sich in beinahe jedem Kapitel. So zum Beispiel in der titelgebenden Begeisterung des Protagonisten für Heiner Müller. Im ersten Teil des Buches ist Jochens Verehrung für den Autor absolut. Als er im dritten Teil hingegen von Müllers Tod erfährt, berührt in dieser kaum noch. Der Grund? Der Literat enttäuschte ihn, weil er in seinem Werk den Kampf der Geschlechter beschreibt und dennoch eine Familie gegründet hatte. Es geht also um die Unvereinbarkeit von Leben und Werk im altbekannten Thomas Mann'schen Sinne. Allerdings kehrt Schmidt die Bedingtheit von Leben und Werk in ihr groteskes Gegenteil, wenn der Jochen des Prologs auf seinem Gesicht das Grinsen findet, welches er zuvor seiner Romanfigur zuschrieb. Hier beeinflusst die Fiktion die Realität.
Von der Sprache zu den Sprachen, von Berlin in die weite Welt
Während Jochens Beziehung mit Judith hat man als Leser noch das Gefühl es mit einem Künstlerroman zu tun zu haben. Jochen entwickelt sich Schritt für Schritt zu einem Literaten. Die Entwicklung beginnt damit, dass er Seite um Seite mit seinem eigenen Namen füllt, weil er das Geräusch der Schreibmaschine so mag. Doch als er dann versucht, sich eine Handlung und Figuren auszudenken, scheitert dies an seiner allzeit mangelnden Konsequenz. Er lässt seinen Helden sagen, dass er Straßenbahnen hasse, weil sie so gelb seien, streicht den Satz und fügt hinzu, dass er nun Straßenbahnen liebe weil sie so gelb seien. Aber auch dazu kann der (anscheinend) reifende Autor nicht stehen. Er schreibt einige "automatische Texte", um seinem Freund Anselm zu imponieren. Doch dieser wirft ihm immer wieder vor, nicht konsequent genug zu sein. Auch bei einem Text, den Jochen parallel mit seinem Vorbild Müller schreibt, kann sich der junge Autor nicht entscheiden, den Text entweder "Lenins erster Tod" oder "Lenins letzter Tod" zu betiteln. Doch Jochen lässt nicht locker, nimmt an Schreibwettbewerben teil und träumt vom Literaturnobelpreis. Er nimmt neue Vorbilder hinzu (Beckett) und nutzt die Abgeschiedenheit des Landlebens, um in elegischen Texten der Gesellschaft ihr kommendes Ende zu prophezeien.
In Brest kommt es wegen des Schreibens zum endgültigen Bruch mit Judith, die mit Jochens neuem Realismus nichts mehr anfangen kann und sich an seiner Einstellung stört, nur aus dem Krieg mit sich selbst und seiner Umgebung heraus kreative Kraft schöpfen zu können. Für Jochen kann es also nur die Entscheidung zwischen Liebe und Harmonie oder der Kreativität geben. Sehr schlüssig also, dass der letzte Teil des Romans, in dem Jochen das Dichten komplett aufgegeben hat mit einem Motto Müllers versehen ist: "Vielleicht gibt es irgendwann eine humane Gesellschaft, eine Gesellschaft also, die keine Kunst braucht."
Es ist mal wieder die Inkonsequenz, die Jochens weitere Entwicklung dominiert. Würde er konsequent handeln, müßte er sich nachdem er seine erste Beziehung für das Dichten aufgab, jetzt erst recht in die Kreativität stürzen. Doch er gibt das Schreiben auf. Statt dessen beginnt für ihn eine Zeit der Fremdsprachen, während welcher er sich immer mehr in eine Sprachbesessenheit hineinsteigert. Seine zweite Freundin Lucía ist (verständlicherweise) sehr irritiert, dass Jochen stets direkt aus dem Bett an den Schreibtisch springt, um im Argot-Wörterbuch ihre Schimpfwörter vom Vortag nachzuschlagen. Auch Jochens Beschreibungen Spaniens sind weniger auf die eigentliche Umgebung bezogen als vielmehr auf sprachliche Besonderheiten. Er betreibt ein linguistisches Sightseeing und scheint seine Umwelt nur als sprachliches Gefüge wahrzunehmen. Dieser Umschwung, weg vom kreativen Gebrauch der Sprache, hin zum reinen Sprachenlernen, kontrastiert ihn zu seinen in Berlin gebliebenen Freunden. Anselm zum Beispiel, der sich der Malerei widmet und dieser im gesamten Roman treu bleibt, endet mit ihr in der Groteske. Er malt in einem Kreativitätsrausch ein überdimensionales Bild, das ihm so groß gerät, dass er, um es aus seiner zum Atelier umfunktionierten Wohnung zu schaffen, das Dach abdecken muss. Ralf, der sich kreativ in der linksradikalen Szene der Hausbesetzer in Form von Punkmusik betätigt, stirbt bei einem seiner Konzerte durch den Sturz von einer Balustrade. Und der Exentriker Olaf, dessen Kunst sich in seinem extravaganten Lebensstil ausdrückt, endet in einem nostalgischen Konservatismus.
All diese Entwicklungen von Jochens ehemaligem Berliner Freundeskreis lassen seine eigene Inkonsequenz in einem anderen Licht erscheinen: sie wirkt plötzlich wie eine Tugend. Dementsprechend muss man den Bruch in der kohärenten Entwicklung Jochens genauer betrachten. Ist es nicht anstelle einer Entwicklung vielmehr eine Entgrenzung, die kreative Beschäftigung mit der deutschen Sprache aufzugeben zugunsten des intensiven Studiums einer Fremdsprache? Und ist diese Tendenz der Entgrenzung nicht eine neue Art der Beschreibung der "Tugend der Orientierungslosigkeit"?
Genauso wie Jochen sich sprachlich "entgrenzt", so sprengt er auch lokal die deutschen Fesseln und wird, ohne dies selbst zu steuern, zum "Mann von Welt". Er entzieht sich dem Moloch Berlin erst durch eine Flucht aufs Land, was später nicht mehr ausreicht, und ihn in andere Länder treibt. Das typische Thema der Stadtflucht, das in der jungen Berlin-Literatur oft thematisiert wird, erhält hier eine neue, erweiternde Komponente. Schmidt ist sich dieser Funktion sehr bewusst, wenn er im Prolog den unerträglich berlinernden Bettnachbarn im Krankenhaus, in Anspielung auf Sven Regeners Berlin-Roman, Herr Lehmann nennt und für diesen Archetyp des Berliners nur Mitleid empfinden kann:
"Zurück auf dem Zimmer,
sah ich mit Herrn Lehmann 'Gute Zeiten, schlechte Zeiten'. 'Ditt is m-meine
Serie', sagte er und starrte glücklich auf den Bildschirm. Für einen Moment
vergaß er seine Lese-Schreibschwäche, seine Epilepsie, sein Stottern, seinen
Hodentumor, seine Zuckerkrankheit, seine Einsamkeit, seine Schwindsucht, seine
Arbeitslosigkeit und seine Suizidgefährdung.
Eigentlich hätte seine Serie 'Schlechte Zeiten' heißen müssen."
Und was bleibt?
Am Ende des Romans im Roman hängt Jochen wortwörtlich in der Luft. Er steht in einem Lift irgendwo zwischen den Stockwerken und erschrickt über sein diebisches Grinsen. Er erkennt im Moment des Ungebunden-Seins die Krux seines bisheriges Verhaltens. Er stahl von seinen Freundinnen diverse Attitüden und Lebensziele und ist nun in seiner Einsamkeit auf sich selbst und seine absolute Orientierungslosigkeit zurückgeworfen. Dieses Erkennen kann man als ersten Schritt einer Entwicklung begreifen. Der vermeintliche Entwicklungsroman endet also an der Stelle, an der die Entwicklung beginnen könnte.
Kehrt man nun wieder an den chronologisch nachfolgenden Prolog zurück, zu dem Jochen Schmitt, der diese Seiten also geschrieben hat, so muss man sich fragen: Was hat der (fiktive) Autor aus seiner Selbsttherapie gelernt? Bekennt er sich nun zum vita activa, heilt seine Gesichtsverspannung durch das Aufstellen eigener Ziele?
"Ich öffnete das Fenster. Die Nachmittagssonne blendete, obwohl ich nur ihr Spiegelbild in der Scheibe gegenüber sah. Ich schloß die grünen Vorhänge und beobachtete, wie der Wind mit ihnen spielte. Im Grunde war ich mit allem einverstanden."
So der letzte Absatz des Prologs. Hier zeigt sich eine stilistische Qualität des Romans. Sätze wie diese, unauffällig und unaufdringlich (und leider viel zu selten), lassen sich mit Blick auf die Bedeutung des gesamten Romans, bis ins Kleinste interpretieren.
Das Fenster öffnen: ein Vorgang, der das Aufheben der gewohnten Grenzen zum Zwecke der objektiven Selbstbetrachtung symbolisiert. Die blendende Sonne: ein althergebrachtes Symbol der Erkenntnis. Hier ist es nicht die direkte Erkenntnis, sondern nur der Abglanz, die Spiegelung. Auf den Roman bezogen also die Erkenntnis, die der Jochen des Prologs aus seinem eigenen Roman zieht. Doch Jochen will nicht erkennen. Er verdeckt das geöffnete Fenster mit grünen Vorhängen, Grün hier als standardisierte Farbe der Hoffnung. Er betrachtet wie diese Hoffnung durch die Willkür des Windes bewegt wird und ist im Grunde mit allem einverstanden.
Was also bleibt ist der pure Fatalismus. Der Protagonist wird sich weiterhin in die Willkür der Fremdbestimmung werfen und das aus einem einfachen Grund: weil es ihm so scheint, als könne er nur so glücklich werden. Diese Absage an die Selbstbestimmung, diese Verweigerung des Individualismus ist meiner Meinung nach die Kernaussage des Romans und stellt ihn in eine Reihe mit Büchern wie Houellebecqs Elementarteilchen oder Christian Krachts 1979. Auch diese beschreiben den Individualismus als das Übel der westlichen Welt. Nur ist der Unterschied zu diesen, das Schmidt in seinem Roman keine utopische Rasse (Houellebecq) oder den übertriebenen Drang nach absoluter Entindividualisierung (Kracht) beschreibt, sondern ein durchaus realistisches Lebenskonzept der Individualitäts- und Orientierungslosigkeit. Obwohl dieser Roman noch alles andere als reif erscheint, kann man sicher sein, von diesem Autor noch mehr zu hören, wenn er genügend Konsequenz für einen weiteren Roman aufbringt.
[JOCHEN SCHMIDT: Müller haut uns raus. Roman. C.H. Beck Verlag, München 2002, 350 Seiten, € 19,90]