Christine Müller
Bettina Galvagni: Melancholia
"…weil
ich einfach nichts anderes kann, als die mit letzter Kraft geliebten Menschen
zu Marionetten in meinem Monologtheater zu machen…"
Bettina Galvagni
in Melancholia
Die Melancholie galt als
Modekrankheit des Abendlandes in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts.
Die Welt der Melancholie wurde über die Zeit als feucht, dunkel und schwer dargestellt,
als Krankheitsursache vermutete man neben Ernährungsfehlern und Alter eine Verwirrung
der Körpersäfte, so was wie einen Exzess der schwarzen Galle. Erst Jahrhunderte
später setzte sich die - weniger poetische - Einsicht der Psychoanalyse durch,
nach der es sich um etwas wie "Unstillbare Trauer" handeln würde.
Auch in Bettina Galvagnis Erstlingswerk wird der Leser von der ersten Seite
an mit diesem Thema konfrontiert und in den Strudel von Krankheiten, Abschlussprüfung
und Einsamkeit gesogen. Die Melancholie legt von Anfang bis Ende ihren Schleier
über das radikal autobiographische Debut der jungen Autorin, die bereits mit
17 Jahren an diesem Werk zu schreiben begann.
Bettina Galvagni wurde 1976 in Neumarkt geboren, wo sie auch Grund- und Mittelschule
besuchte, bevor sie auf das Humanistische Gymnasium in Bozen wechselte, das
sie 1995 mit Auszeichnung abschloss. Noch im selben Jahr begann sie, an der
Universität Wien Medizin zu studieren und hat diese Stadt seitdem zu ihrer Wahlheimat
gemacht. 1992 nimmt sie erstmals am Literaturwettbewerb des Autorenkreises im
Südtiroler Künstlerbund und der Zeitschrift "Distel" teil, wo sie den Preis
für die beste Prosa und Lyrik bekommt. 1997 begeistert sie die Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs,
an dem sie als jüngste Schriftstellerin teilnimmt. Für ihren Text "Die letzte
Ikone" bekam Bettina Galvagni den mit 100.000 ÖS dotierten Ernst-Willner-Preis.
Für ihre erste große Prosaarbeit "Melancholia" wurde der Jungautorin 1998 der
Rauriser Literaturpreis verliehen.
"Es ist das Rücksichtsloseste,
was ich geschrieben habe, ich habe mein Hemd vor allen ausgezogen und es ihnen
hingeworfen, sie können alle an meinem Leben knabbern, es aufessen wie Nüsse"
ist Bettina Galvagnis Aussage über ihr Buch, das von Anfang an dem Leser den
Stoff gibt, mit dem er es zu tun haben wird: die permanente Abhandlung von Kindheit,
Krankheit und Klausuren scheint die Ich-Erzählerin, die sich Bettina nennt,
gleich im ersten Satz zu entschuldigen: "…weil ich es schon zu dem Zeitpunkt
nicht lassen konnte, von immer den selben Dingen zu erzählen.
"Und
diese Dinge sind zu allererst ihre eigene Magersucht und die Sorge der Mutter
darüber. Essen scheint Zwang der Mutter zu sein und wird als Höllenqual empfunden,
der Tod wird immer wieder wie auch der mögliche Suizid angesprochen, und man
wird das Gefühl nicht los, dass Bettina stolz darauf ist, an einer (Unter-)Welt
teil zu haben, zu der den anderen kein Zugang möglich ist. "…wobei diejenigen
(…) trotz akribisch genauer Schilderung meines in der Tat bedrohlichen Zustandes
nicht auf die leise Idee kamen, dass zwischen Krankheit und Tod und mir wirklich
ein dämonisches Bündnis herrschen könnte, sozusagen eine hypochondrische Dreifaltigkeit."
Diese Krankheit nimmt ihr nicht nur die Möglichkeit, ganz normal, wie es einem
Mädchen ihres Alters entspräche, zu leben, nein, die Krankheit gibt ihr auch
Macht. In all dem Leiden, den Schmerzen und der Übelkeit hat die zarte, viel
zu dünne Bettina in ihren eigenen Augen Gewalt über ihre Eltern, über die Schule,
die Lehrer und ihre Freunde. Es bleibt nicht bei den Essproblemen, die Sprache
ist auch von Krebs, einer Herzbeutelentzündung und anderen lebensgefährlichen
Einbildungen. Doch vielleicht ist es nur die Mutter, die in ihrer Sorge um die
kranke Tochter vergeht, denn der Vater spielt eine andere Rolle, die teilweise
sehr widersprüchlich ist. "Würde mein Vater noch leben für längere Zeit, würde
ich je einen einzigen Schritt in diese Welt machen" zeigt die Wichtigkeit und
die Abhängigkeit der Tochter vom Vater, für ihn würde sie beten, und als er
ins Krankenhaus muss, weint sie. Ansonsten scheint das Mädchen den Vater abzulehnen
und sich gleichzeitig dafür zu schämen: "...ich (…) will nach meiner Mutter
schreien und sie um Vergebung bitten, dafür, dass mir schlecht wird, wenn ich
meinen Vater sehe".
Um als Familie neue Kraft zu schöpfen, reisen die Eltern mit Bettina nach Italien
ans Meer, doch dort geht es ihr noch schlechter. Da sie mit den Eltern in einem
Zimmer schlafen muss, und deshalb abends nicht mehr schreiben kann, glaubt sie,
sterben zu müssen: "ich werde Gläser zerschlagen vor Qual".
Prompt hat das arme Ding Wasser im Herzen und verbringt den Rest der Ferien
in einem italienischen Krankenhaus, wo sie nun vollends die Einsamkeit kennen
lernt, den tristen Krankenhausalltag beschreibt und teilweise genaue Uhrzeitangaben
macht, wo gar nichts passiert. Während die ehemaligen Klassenkameraden in ihrer
Erinnerung weiterleben, wächst in ihr die Angst vor dem Sterben, das immer wieder
in verschiedenen Facetten thematisiert wird. Regelmäßig tauchen die Bilder toter
Kätzchen, die Andeutung an den Hades und die Todesfuge Celans auf, und werfen
melancholisches, muffiges Licht auf die Buchseiten.
Am Ende taucht dasselbe Bild wieder auf, das es schon am Anfang gegeben hat:
die schwachen Früchte, die zu schwach sind, um einen schwachen Körper zu ernähren.
Allerdings fällt eines auf: Auf Seite 6 werden der Erzählerin die Früchte gegeben
und sie schreibt im Konjunktiv; 180 Seiten später holt sie sich die "Schwächefrüchte"
selbst von den Bäumen. Sollte das nicht für große Hoffnung auf Heilung genügen?
Außer den eigenen Eltern und einigen Ärzten und Therapeuten taucht nur die Freundin
Colette regelmäßig auf, während das Erwähnen der meisten anderen Namen einmalig
bleibt. Es scheint wie ein Auszug aus dem Buch der "Schönsten Mädchennamen",
wenn die Erzählerin jeder Person, die in ihren müden Gedanken auftaucht, einen
neuen Namen gibt. Teilweise sind es Klassenkameradinnen, teilweise Zimmergenossinnen,
die durch ihre Diagnose oder mit seltsamen Eigenschaften in Erinnerung bleiben
wollen um dann doch zu verblassen, da jedes der über 40 Gesichter die selben
Umrisse hat; da machen die leicht voneinander abweichenden Nuancen auch nichts
mehr besser.
Lebensinhalt und die einzige schützende Kraft der Protagonistin ist die Literatur,
die immer wieder zum Hauptthema wird. Sobald sie sich in einer Situation unwohl
fühlt, und das ist wohl permanent der Fall, greift sie das interessante Lieblingsthema
auf und spricht über Dichter und Denker. Von Aristoteles über Heidegger bis
Virginia Woolf - nur das Schwerste ist gut genug, soll befreien und belasten
zugleich. Aus Lesen und Schreiben besteht ihr Leben. Keine Kunst ohne Leid ist
hier das Motto und so versucht die Erzählerin aus Leid Kunst zu machen, was
aber ein tröstlicher Trugschluss sein könnte.
Die wohl jedem bekannten Themen des Welt- und Herzschmerzes einer Pubertierenden
sind hier in ewiger Wiederholung dargelegt und betonen die Enge und Monotonie
der jugendlichen Dame, die eine wird und keine sein will. Der mütterliche Busen,
der selbst noch nicht vorhanden, ist hier ewiges Thema. Da wird der Busen der
Tante beschrieben, Menschen nach Brüsten identifiziert oder ausgiebig von Beurteilungen
der eigenen Brust geträumt.
Überhaupt sind Träume ein wesentlicher Bestandteil des jungen Lebens und sie
beschäftigen sich mit Städten, Reisen und Erinnerungen daran. Die Ebenen des
Traumes und der Wirklichkeit mischen sich immer mehr, teilweise sind sie kaum
voneinander zu unterscheiden. Immer wieder taucht die Lieblingsstadt Paris auf,
deren Plätze und Cafés ausgeschmückt beschrieben werden. Aber auch Züge, Autofahrten
und Bahnhöfe spielen eine wesentliche Rolle, sollen sie doch den Wunsch nach
Neuem, nach Abenteuer und Lebenslust verkörpern. Elemente, die im realen Leben
Bettinas nicht zu existieren scheinen. Selbst die erste große Liebe scheint
ohne Hoffnung zu sein, "weil er, den ich doch liebe, mich nicht erfassen will…"
und alles was da noch bleibt, sind Tränen der Nacht und des Tages.
Wenn die Handlung nicht vorankommt, die Themen alltäglich sind und die Gedanken
immer dieselben, was bleibt dann noch als guter Grund, weiter zu lesen?
Bettina Galvagni bannt den Leser mit ihrer beispiellosen Sprache, die nicht
nur in Wortwahl und Satzbau auffällt. Da Gibt es "Schaum von abgestorbenen Wörtern
vor dem Mund", "fischsuppenglänzende Augen" und einen "Brunnen, aus dem ich
diese ganze Angst trinke". Die Mitschüler werden als "übereifrig wörterbuchzerfressend"
dargestellt, die menschliche Seele als "brüchige hölzerne Bühne" auf der sich
alles abzuspielen vermag, ohne dass man darauf Einfluss nehmen könnte.
Diese ganze eigene, anfangs ungewohnte Sprache bringt das Gedankenwirrwarr der
Erzählerin zum leben. Wenn der Blick immer um dieselben Begriffe seine Kreise
zieht, wenn es keinen Weitblick gibt für Dinge, der aus dem Strudel "Krankenhaus,
Angst und Langeweile" herausführen könnte, muss man für das immer Gleiche neue
Ausdrücke finden. Der Autorin gelingt das, streckenweise auf brillante Art und
Weise, zum Teil aber auch gezwungen und maßlos überzogen. Was stelle man sich
unter "wie ein Gebet schmeckender Schokolade" vor? Oder unter einem "mohn- und
gedächtnislosen" Dasitzen? Die manchmal wunderschönen Bilder aus Wörtern und
Sprache verlieren durch die theatralische Ader des Erzählens leicht ihre Wirkung,
scheinen übertrieben und dadurch unecht. Die geschmückten Wortbilder sind auf
den ersten Blick überzeugend gut, fragt man sich aber beim zweiten Blick nach
dem Sinn, so ist der nicht immer erkennbar.
Bettina Galvagni spielt mit der Sprache und lässt die Worte in ihren Händen
tanzen wie Marionetten. Sie lässt sich nicht beeindrucken von herkömmlichen
Regeln und Gesetzen, in ihrer Grammatik und ihrem Satzbau macht sie was sie
will. Die üblichen Satzzeichen werden ausgeklammert, gegen Ende hin sogar vollkommen
weggelassen, was das Lesen gewöhnungsbedürftig macht, da man oft verwirrt wird.
In dem ganzen Buch kommen keine Anführungszeichen vor, wohl aber direkte Rede.
Wenn diese mitten im Satz beginnt, schreibt die Autorin die direkte Aussage
einfach groß, meistens auch ohne vorher gehendes Satzzeichen. In langen Passagen
der Gedankenströme, die in kurzer Parataxe aneinander gereiht sind, erscheint
lange kein einziger Punkt, wohl aber neuartige Grammatikregeln, in denen einem
Fragezeichen ein Komma folgt und danach klein weiter geschrieben wird. Während
des Aufenthaltes in Italien werden pausenlos die Aussagen und Fragen der italienischen
Mitmenschen mit der eigenen Sprache vermischt, ohne dass auf ihren Sinn näher
eingegangen wird. Ganz so als hätte man hier ein Diktiergerät in den Raum gestellt
und anschließend das Gehörte mit den eigenen Gedanken zusammen getippt.
Ein weiteres Mittel, mit dem die Autorin arbeitet, ist die Wiederholung. Seien
es die Wortbilder Krankenhaus, Schule oder Literatur, die immer wieder zum Thema
werden, oder Bilder wie das der toten Katzen, Apfelschalen die gegessen werden
oder der Vergleich mit einem Reh; immer wieder tauchen dieselben Bilder auf,
ab einem gewissen Punkt verlieren sie ihre auf den Leser wirkende Kraft. Wenn
die Erzählerin schreibt "Vielleicht würde ich für meinen Vater beten, würde
ich beten. Vielleicht betete ich.", klingt das wie ein Spiel mit der Sprache,
wie sich ähnelnde Wellen, wie Musik.
Wenn man in sich gekehrt ist und denkt, wenn man dabei den Gedanken freien Lauf
lässt, entstehen Gedankenketten, die in rasender Geschwindigkeit vom einen zum
nächsten Thema eilen, ohne bei einem ein Weilchen zu bleiben. Bettina Galvagni
muss schnell schreiben können, denn ihr Schreiben scheint wie eine Gedankenautobahn,
auf der Aneinanderreihungen von bruchstückhaften Phantasien einander jagen,
als gäbe es ein Ziel. Teilweise sind Übergänge zwischen der Gedanken- und der
etwas realeren Welt durch Zeitsprünge gekennzeichnet, wenn mitten im Satz zwischen
Präsens und Imperfekt gewechselt wird. Doch schon sehr früh kommen am Auge des
Lesers immer und immer wieder gleiche, sich ähnelnde Bilder vorbei, werden mal
heller mal dunkler gesehen, und bleiben doch immer dieselben. Es wird anstrengend,
aus all der Tristesse mit noch heiteren Gedanken zu entkommen. Zu schwer scheint
das Leiden des jungen Mädchens zu sein. Man hätte durchaus einige Passagen kürzen
können, ohne dem Buch etwas zu nehmen. Doch das ist ihr bewusst, wenn sie sich
dafür zu entschuldigen scheint: "…dieses böse Manuskript ich bin so verrückt
dabei geworden ich glaube so verrückt dass es mir egal geworden ist dass die
Menschen die hier in meinem Schreibtod mit mir sterben mussten weiter leben
würden und mich ewig hassen werden für das was für mich sein musste…".
Hätte die Autorin ein ganzes Stück gekürzt, und sich damit Platz für Wesentlicheres
geschaffen, so wäre ihr erstes Prosawerk beispiellos glänzend geworden. Doch
für Glanz bleibt zwischen all dem Blut, den Spritzen und dem Eiter der traurigen
Jugend kein Raum, und so ist man froh, sich anschließend schöneren Gedanken
widmen zu können. Wenn man alles aus zwei Perspektiven betrachten kann, wurde
die angenehmere hier deutlich vernachlässigt.
Bettina Galvagni, Melancholia. Prosa. Salzburg: Residenz 1997