Herbert Riepl
"Die
Mitte der Welt" von Andreas Steinhöfel
(Frankfurt/Main:
Fischer Taschenbuch Verlag 2000)
Die Mitte der Welt, das
ist für den jungen Phil die Bibliothek seines Zuhauses Visible. Dieses Visible
ist eine spukschloßähnliche, riesige Villa mit dazugehörigem Park, Wald und
Teich, so benannt von der Schwester seiner Mutter, einer Amerikanerin, die nach
langer Europareise sich in das Anwesen einschließlich Latifundien verliebte
und es kaufte.
"Die Mitte der Welt", das ist auch der Titel des Romans von Andreas Steinhöfel,
der bis dahin ausschließlich als Kinder- und Jugendbuchautor literarisch in
Erscheinung getreten ist. Der Autor, Jahrgang 1962, studierte in Marburg Anglistik,
Amerikanistik und Medienwissenschaften. Er lebt als Übersetzer, Drehbuchautor
(u. a. für den "Käpt' n Blaubär Club" und "Urmel aus dem Eis"), Kinderbuchautor
und rezensiert regelmäßig Jugendbücher für die FAZ. Laut Waschzettel ist "Die
Mitte der Welt", 1998 erschienen, sein erster Roman, der Erwachsene wie Jugendliche
gleichermaßen ansprechen soll.
Dieser Roman, ein Entwicklungsroman, schildert den Prozeß der Reifung des siebzehnjährigen
Phil, welcher nahe einer Kleinstadt in dem bereits erwähnten Visible wohnt.
Dort lebt er mit seiner Schwester Dianne und seiner Mutter Glass. Letztere kam
kurz vor der Geburt der Zwillinge Phil und Dianne von Amerika nach Europa, um
in Visible bei ihrer Schwester ein neues Leben zu beginnen. Kurz vor der Villa
angelangt, lassen sich die Kinder nicht länger im Bauch halten und so kreißt
sie auf dem Schnee des Waldes. Durch ihr Schreien alarmiert kommt eine junge
Frau zu Hilfe, die nicht ihre Schwester ist, sondern die Nachlaßverwalterin
Tereza, da Glass' Schwester kurz vorher aus dem Fenster fiel und verstarb. So
ungewöhnlich beginnt die Geschichte, und so soll sie auch weitergehen.
Kleine Leute und Jenseitige
Tereza und Glass werden
gute Freundinnen, Glass erbt Visible und bleibt mit den beiden Kindern dort
wohnen. Da Glass sehr der Promiskuität zugeneigt ist, macht sie sich bei der
Bevölkerung der angrenzenden Kleinstadt relativ bald unbeliebt. Überhaupt, die
Kleinstadt. Hier etabliert der Autor eine sehr plakative semantische Dichotomie.
Visible auf der einen Seite, ein wildromantischer, vielversprechender und verwunschener
Ort mit entsprechenden Bewohnern, auf der anderen Seite die Kleinstadt mit ihren
spießigen, kleinbürgerlichen Einwohnern, die sich von der Liberalität der Villa
bedroht fühlen. Wo die Sympathien des Lesers liegen sollen, dürfte leicht zu
erraten sein. Aus der Perspektive von Visible werden die Stadtbewohner nur die
kleinen Leute bzw. die Jenseitigen genannt.
Die Beziehung zwischen Glass und ihren Kindern ist sehr liberaler und freundschaftlicher
Natur. Die Kindheit der beiden wirkt zunächst fast utopisch schön, bis am Schluß
allerdings dann doch dunkle Schatten auftauchen, die in ihrer Häufung jedoch
etwas konstruiert wirken. Folgender Auszug erscheint typisch für die Philosophie
in Visible:
Seid stark und wehrt euch. Wer euch verletzt, dem tut doppelt weh oder geht aus dem Weg, aber lasst euch niemals vorschreiben, wie ihr zu leben habt. Ich liebe euch, wie ihr seid. (S. 56)
Dieses
Credo lehrt Glass ihre Kinder, und dementsprechend leben es die Zöglinge auch
nach. Und das ist auch notwendig. Phil, der Protagonist, ist schwul. Wer nun
eine komplizierte Coming-out-Story erwartet, wird enttäuscht. Phil lebt seine
Homosexualität selbstverständlich, und ohne diese jemals in Frage zu stellen.
Wegen dieser Unbeschwertheit verliebt sich Phil während des geschilderten Zeitraums
der Haupthandlung, ungefähr ein halbes Jahr, auch das erste Mal. Und zwar in
Nicholas, den unerreichbar scheinenden Sportstar der Schule. Dieser erwidert
das Begehren Phils und bald stürzen sich beide in eine leidenschaftliche Affäre.
Doch ein Unbehagen für Phil bleibt. Selbst zu den kleinen Leuten gehörend hat
Nicholas natürlich nicht so ein unverkrampftes Verhältnis zu seinem Schwulsein,
außerdem scheint bei Nicholas lediglich ein sexuelles Interesse vorzuherrschen;
auf Erwiderung der Liebe wartet Phil vergeblich. Deshalb hat die Beziehung am
Ende des Buchs auch keine Chance mehr.
Um es vorwegzunehmen: Das Buch ist wunderschön. Allerdings muß literarische
Wertung auch grausam sein dürfen, auch bei schönen Büchern. Und ein Ansatzpunkt
für Kritik findet sich meiner Ansicht nach in der äußerst stereotypen Trennung
zwischen Visible und den Bewohnern der Stadt. Gemäß der erwähnten Dichotomie
steht Visible für Freiheit und das wahre, ursprüngliche, nicht durch bürgerliche
Normen bestimmte Leben, die Stadt hingegen für Enge und normative Einschränkung.
Zudem schließen die Bewohner der Villa ihre ohnehin spärlichen Kontakte zur
Außenwelt meist auch nur mit den Außenseitern der Stadt: die verrückte Alte
mit den roten Schuhen und dem Alkoholproblem, der psychisch-kranke Mitschüler
Wolf, der alte, gutmütige aber senile Kaufmannsladenbesitzer. Werden Kontakte
zu "normalen" Menschen geschlossen, wird sofort die emotionale Überlegenheit
der Familie deutlich. Zur "Familie" gehören neben Glass, Dianne und Phil auch
noch Tereza und ihre Partnerin, der Globetrotter Gable und Michael, der neue
Freund von Glass (natürlich auch alles außergewöhnliche, individuelle Persönlichkeiten).
Manchmal (besonders am Ende) fühlt sich diese Invasion von Gutmenschen wie übermäßiger
Süßigkeitengenuß an.
Gelegentlich scheint der Autor das Dilemma selbst zu erkennen, als er den Ich-Erzähler
Phil einräumen läßt, ob die Feindschaft und vermeintlich emotionale Inkompetenz
der Leute nicht doch auch manchmal eingebildet und hausgemacht ist:
Ich gestehe mir nur widerwillig ein, dass sein [der Polizist, Anm. d. Verf.] Verhalten möglicherweise kein Zeichen von Herablassung, sondern ebenso gut von Fairness sein könnte. Schon die Nachtschwester im Krankenhaus hat Glass mitsamt ihrer Aggressivität ins Leere laufen lassen. Ich bin müde. Vielleicht kämpfen wir alle gegen Windmühlen. (S. 270)
Einige Aspekte des Buches erscheinen zudem fragwürdig. Warum empfindet Phil die Bibliothek als die (immerhin titelgebende) Mitte der Welt, wenn Bücher kaum eine tragende Rolle in der Geschichte spielen? Desweiteren wirken Nicholas' Geschichten zu seinen Museumsstücken unnötig und erhellen den Charakter von Nicholas keineswegs. Wollte der Autor hier etwa literarische Bedeutsamkeit durch enigmatische Binnenerzählungen erzeugen?
Schwul zu sein bedarf es wenig ...
Eine der großen Stärken
des Buchs ist der äußerst unverkrampfte Umgang mit Homosexualität. Schwulsein
wird hier kaum als problematisch, selbstzerfressend, tuntig oder pervers dargestellt.
Für Phil ist es das Natürlichste der Welt, Männer zu preferieren, und auch seine
Mutter hat gänzlich keine Probleme damit; im Gegenteil: während einer Schiffsreise
Gables mit dem vierzehnjährigen Phil im Mittelmeer, läßt sie ihm mit Gables
Hilfe ein sexuelles Initiationserlebnis mit einem griechischen Jungen zukommen.
Solch eine Mutter erscheint wie der Wunschtraum jedes Schwulen. Als er sich
dann drei Jahre später in Nicholas verliebt, erhält er jede erdenkliche Unterstützung
durch die Familie.
Ein wenig aufstoßen dürfte schwulen Rezipienten des Buches lediglich der sogenannte
"Tuntentest", bei dem Tereza und Glass herauszufinden versuchen, ob Phil mal
schwul wird. Und hier kommen dann die typischen Klischees von der Tunte, die
nicht Fußball spielen kann und der es unmöglich ist, auf zwei Fingern zu pfeifen.
Mit etwas Wohlwollen könnte man aber vielleicht auch nur schwule Selbstironie
erkennen (ohne daß ich dem Autor hier zu nahe treten möchte).
Tiefe Teiche und Professorenleichen
Besonders eindringlich ist
die metaphorische Stimmung des Buches. Visible und dessen Grünanlagen stellen
oftmals eine metaphorische Umschreibung des Erwachsenwerdens und des Verliebtseins
von Phil dar. Ein Beispiel: Im Park von Visible befindet sich ein versteckter,
dunkler und tiefer Teich, der Phil als Kind immer Angst einjagte, und den er
sich nie betreten traute.
Nach dem ersten sexuellen Erlebnis mit Nicholas ist die Angst besiegt, und er
taucht sogar in die schwarze Tiefe des Teiches ein; sexuelles Erwachen besiegt
die Dunkelheit.
Sprachlich äußerst versiert versteht Steinhöfel es, niemals Langeweile aufkommen
zu lassen. Und das ist sicherlich um so bemerkenswerter, als die Komposition
des Werks dies durchaus nicht so einfach macht. Die Liebesgeschichte und alle
anderen Verwicklungen bilden die präsentische Haupthandlung. Diese wird immer
wieder durch Rückblenden aus der Vergangenheit des Ich-Erzählers unterbrochen;
die Spannung wird dadurch erhöht, da die Rückblenden und Erklärungen meist an
exponierter Stelle die Haupthandlung stoppen und diese als Cliffhanger zunächst
zurückbleibt. Erkennbar sind diese Einschübe stets am Tempuswechsel von Präsens
in Vergangenheit, was den Schnitt noch deutlicher erscheinen läßt. Diese Rückblenden
sind aber keineswegs isoliert zu betrachten, im Gegenteil, nur durch sie sind
die Vorgänge der Haupthandlung, die zunächst oftmals Rätsel aufgeben, erklärbar
und nachvollziehbar.
Interessant ist auch die Erzählperspektive. Im Prolog schildert ein personaler
Erzähler die Reise der schwangeren Glass nach Europa. Sobald jedoch die Zwillinge
geboren werden, setzt konsequenterweise der Ich-Erzähler Phil die Erzählung
fort. Konsequent ist auch die Sprache des Ich-Erzählers. Sobald eine Rückblende
in die Kindheit erfolgt, paßt sich auch die Sprache der Ausdrucksweise und Weltsicht
eines Kindes an (was auf erwachsene Rezipienten vielleicht manchmal enervierend
wirken mag). Hier zeigt sich aber die Nähe Steinhöfels zur Kinder- und Jugendliteratur.
Der Autor versteht
es außerdem, durch die Absurdität mancher Szenen unvergleichliche Komik zu erzeugen.
Besonders trifft dies auf die nächtliche, abenteuerliche Umbettung einer Professorenleiche
(Terezas Vater) und auf den bereits erwähnten "Tuntentest" zu.
Personen und Entwicklungen
Eine weitere Stärke des
Romans liegt auch in den vorkommenden Personen begründet. Die Figurenzeichnung
des jungen Phil mit all seinen Unsicherheiten erscheint so glaubwürdig, daß
sich der Leser bald mit ihm identifiziert und sich mit ihm freut und mit ihm
leidet. Auch die Nebenfiguren werden mit der gleichen Präzision wie der Protagonist
dem Leser vorgestellt und nahegebracht, so daß es dem Leser unmöglich gemacht
wird, sein Sympathiepotential ausschließlich auf die Hauptfigur zu beschränken.
Ein wenig übertrieben erscheint allerdings, daß einige der Personen außergewöhnliche,
fast phantastische Eigenschaften besitzen, die die Figuren oftmals unnötig gekünstelt
wirken lassen.
Aber zurück zu Phil: Anfangs wurde erwähnt, daß es sich um einen Entwicklungsroman
handle. Laut Metzlers Literaturlexikon ist ein Entwicklungsroman ein "Romantypus,
in dem die geistige Entwicklung der Hauptgestalt (meist eines jungen Menschen)
dargestellt wird". Und das ist bei Phil auf beeindruckende Weise der Fall. Pascal,
die lesbische Lebenspartnerin Terezas, erkennt Phils Dilemma am besten:
Vielleicht würde es dir helfen, wenn du etwas mehr Initiative ergreifst und dafür weniger wie ein unbeteiligter Zuschauer durch die Weltgeschichte stolperst. (S. 365)
Und damit bringt sie es
auf den Punkt. Meist läßt sich Phil nur treiben und wirkt passiv, selbst der
sexuelle Kontakt mit Nicholas ist auf dessen Initiative begründet. Doch mit
zunehmender Zuspitzung der Ereignisse bis hin zum finalen Showdown (das Attentat
auf Nicholas), werden Phil eigene Versäumnisse, Unzulänglichkeiten und seine
lähmende Passivität immer bewußter. Am Ende scheint er gereift durch die Erlebnisse
des vergangenen halben Jahres, übernimmt Verantwortung für sich selbst, und
scheint keineswegs mehr eine passive Marionette zu sein. Zu Hilfe kommen ihm
dabei Mentorfiguren wie Gable und der philosophische Mathematiklehrer Händel.
Ja, es ist ein Entwicklungsroman par excellence: Phil ist ein anderer als zu
Beginn des Buches, er ist durch wunderbare und durch schmerzhafte Erfahrungen
erwachsen geworden.
Steinhöfels Roman ist ein kleines Meisterwerk der Unterhaltung geworden, daß
sich sicherlich auch durch die Tatsache, kein komplexes oder unbequemes "Germanistenfutter"
zu sein, eine große Fangemeinde geschaffen hat. In vielen Bereichen liegt es
dadurch im Trend der Zeit: Ich-Erzähler, Entwicklungsgeschichten Pubertierender
und Familienchroniken bestimmen den literarischen Markt der Jahrtausendwende.
(Andreas Steinhöfel: Die Mitte der Welt. Roman. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2000, 464 S.)