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Joerg Vogler

Rezension zu Tim Staffel: "Terrordrom" (1998)

Dass der Gedanke, Science Fiction habe mit Zukunft zu tun, naiv ist, hat bereits der amerikanische Schriftsteller William Gibson behauptet. Und falls er noch ein Exempel für seine Theorie gesucht hätte - er hätte an Tim Staffels "Terrordrom" ein Musterbeispiel gefunden. Und hier im Besonderen dafür, dass die Zukunft im Roman zu einer Bühne wird, auf der Science Fiction keine Futurologie darstellt, sondern Ängste und Hoffnungen der Gegenwart aufgreift, um sie umzusetzen und zu diskutieren. Wenn Tim Staffel seinen Roman in die nahe Zukunft verlegt, spielen bei ihm weder Aliens, noch Kometeneinschläge eine Rolle, Zukunft ist vielmehr die Schwelle zum 21. Jahrhundert. Der Roman beginn mit dem Ende des Jahres 2000, während Berlin in einer neuen Eiszeit erstarrt. Eine niemals gekannte Kälte droht die Infrastruktur der Stadt zu zerstören: Abwasserrohre platzen auf und der Straßenverkehr wird durch Schnee und Eis zunehmend unmöglich. Die Schneemassen wachsen zu Eisbergen an, und ganze Viertel Berlins werden evakuiert. Eben diese Kälte bildet den Nähr- boden für Gewalt und Hass, die zwischen den Bewohnern aufkeimen. Gleich zu Beginn entladen sich die destruktiven Gefühle und nehmen im Verlauf immer mehr an Intensität zu.

Vorangetrieben wird die Handlung von einem scheinbar zufälligem Netzwerk von Bewohnern, in deren Mitte Lars steht. Durch seine Briefe, allesamt unterzeichnet mit einem bloßen V., führt er die Figuren zusammen, denen zunächst noch wenig gemeinsam ist. Auf der anderen Seite steht der Fernsehmoderator Tom, der die gewaltdurchzogene Stimmung geschickt für sich zu nutzen vermag und in seiner Redaktion als Herr des Chaos erscheint. Die vermeintliche Herrschaft löst sich jedoch schnell auf, betritt der den privaten Raum seiner Familie. Seine Frau Anna, die täglich am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht und nur durch ein Gemisch aller möglichen Medikamente die Haltung bewahren kann, ist ebenso unfähig, am familiären Leben teilzunehmen, wie auch sein Sohn Felix, der täglich mit allerlei diffusen Gestalten um das Überleben auf der Straße kämpft und seine Nächte lieber bei Koks und Speed verbringt, als im heimischen Bett. Nur durch körperliche Gewalt von sich selbst aus vermag Tom die dysfunktionale Gemeinschaft zeitweilig am Leben zu erhalten, und sei es nur für ein paar weihnachtliche Stunden.

Lösen die mit V. unterzeichneten, anonymen Briefe aus Lars' Feder zu Anfang noch Heiterkeit bei den Empfängern aus, die scheinbar willkürlich ausgewählt sind, versetzen sie die Menschen mit fortlaufender Handlung immer mehr in Angst. Die apokalyptischen Phrasen gegen den demokratischen Rechtsstaat wandern zuerst unbeachtet wieder in den Papierkorb, werden aber immer mehr zum Indikator und ungewollt auch zum Auslöser immer neuer Destruktion. Die gipfelt in der Sprengung des Telekom-Gebäudes in der Berliner Innenstadt - die Lars noch selbst zu verantworten hat - und zum Ende dann konsequent im Terrordrom, einer Art kollektivem Freizeitpark für die konsumierbare Gewalt. Konkret wird dabei fast der gesamte Bezirk Berlin-Mitte - durch die Kälte und das Eis praktisch sowieso unbewohnt - gegen Bezahlung für jedermann zum Schauplatz seines eigenen Krieges mit scharfen Waffen gegen jeden anderen. Die Fernsehübertragung wird durch den findigen Tom gesichert, der inzwischen ein Verhältnis mit seiner karrieregeilen Sekretärin begonnen hat.

Die Geschichte klingt vertraut. Schon einmal 1963 macht sich der Protagonist eines Romans von Thomas Pychon auf die Suche nach einer vagen Gestalt namens "V.": "Hinter und in V. ist mehr verborgen, als irgendeiner von uns je vermutet hatte", heißt es dort. Der Schluss bleibt hier offen und unklar bleibt ebenfalls, was für ein Zusammenhang zwischen den zahllosen V.-Anspielungen besteht.

Es liegt in "Terrordrom" kein Hinweis vor, dass Tim Staffel "V." von Pynchon gelesen hat, doch scheint klar, dass Staffel den Roman zu kennen scheint. Zu unübersehbar sind die Parallelen. Auch in Pynchons Roman kreisen die Menschen ziellos umher, ohne ein wirkliches kommunikatives Verständnis zu erlangen, Waffen sind irgendwie geil, nur ist der Leser im "Terrordrom" ein wissender Beobachter, der zwischen den Perspektiven der verschiedenen Figuren, die jeweils von ihrer Warte aus in der Ich-Form berichten, hin- und herzuspringen vermag. Überhaupt sorgt der ständige Perspektivwechsel, der dem Leser förmlich aufgedrängt wird, für eine ständige angespannte Stimmung, die der der Figuren gleicht, und sorgt daneben für große Authentizität.

Es scheint sowieso größtes Anliegen von Staffel gewesen zu sein, den Roman so authentisch wie möglich zu gestalten. Setzt dies der plötzliche Perspektivwechsel immer wieder perfekt um, wirken in diesem Sinne die zahllosen und fast penibel genauen Ortsangaben eher aufgesetzt. Wenn der Hauptdarsteller erst den Bus 129 in Richtung Hermannplatz nimmt, aber dann doch die U8 in Richtung Leinestraße ("nehme den Umweg in Kauf"), dann klingt das so überladen, als wolle einer beweisen, er kenne sich aus - und nicht nach Realismus. Überhaupt ist die Handlung durchsetzt mit Namen von Kneipen, Straßen, Autobahnen und Plätzen; immer wieder erfährt man, welche Clubs angesagt sind und welche nicht und fühlt sich dabei an Stuckrad-Barre oder Illies erinnert, die sich ähnlich um das, was man wohl am besten als Aufbau eines kulturellen Archivs bezeichnen mag, aufgetan haben. Und da es nicht an Themen in "Terrordrom" fehlt, ist es oft schade, dass darauf so viel Platz verwendet wird in der sonst so spröden Sprache. Die erscheint durchwegs als knapp, klar, realitätsnah und dabei doch nicht obszön oder aufgesetzt.

Wenn Tim Staffel am Ende des letzten Jahrtausends Gewalt und Hass in Berlin regieren lässt, dann trifft er damit ein Problem der Gegenwart. Nicht gegen soziale Ungerechtigkeit oder eine Institution ist der Roman gerichtet, sondern zeigt eine diffus-latente Grundströmung der Trägheit in unserer Gesellschaft auf, die jederzeit in Hass umschlagen kann, wenn nur die Verhältnisse die richtigen (oder die falschen) sind. "Hass ist Leben", verkündet V. in Staffels Roman und nichts anderes verkündet auch sein Roman.

In dieser Welt von Gewalt und Hass durchaus moralisch bleiben zu können, ohne dabei moralinsauer zu wirken, ist Staffels Kunst in diesem Roman. Denn auch hier finden sich Inseln, die hoffen lassen auf Besserung und dem Wunsch nach einer anderen Welt ohne Hass und den täglichen Überlebenskampf. Meistens sind diese Momente verknüpft mit Toms Sohn Felix, aus irgendeinem Grund die sympathischste Figur, obwohl er drei Menschen umbringt, aber sich dabei noch immer Sorgen um seine Mutter macht. Konsequent endet der Roman mit einer Flucht von Felix und seinem Freund Sinan aufs Land, als wolle die junge Generation beim Krieg ihrer Eltern in Berlin nicht mehr mitspielen.

Am Ende ist auch V. bloße Marketingstrategie für hohen Einschaltquoten und überteuerte Merchandising-Artikel. Ein Vergleich zur Rave-Kultur der 90er drängt sich auf, die landläufig zum Ende des Jahrtausends zum Erliegen gekommen war, aber im "Terrordrom" noch immer eine große Rolle spielt. Die Wandlung von V.s Rolle und der der Rave-Subkultur weisen dabei vor allem eine Parallele auf: Die der allmählichen Kommerzialisierung, mit der auch der ursprüngliche Sinn erst verschleiert wurde und bald unkenntlich geworden war.

Der größte anzunehmende Unfall, der Amoklauf der Volksmassen im Terrordrom, erweist sich am Ende als vermarktungstauglich und systemstärkend und wirkt so als zynische Pointe des Romans.

Somit bleibt als schaler Nachgeschmack für den Leser die Frage nach dem Realitätsbezug von Staffels Apokalypse. Im Moment sind im Osten dieser Republik tausende Menschen vereint im Kampf gegen die Auswirkungen von Naturgewalten und eine Eskalation der Situation wie durch Staffels Kälte scheint fast unmöglich, auch wenn der brandenburgische Innenminister vor Plünderungen angesichts der Flut warnt. Aber eben nur fast unmöglich.

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