1. "Heute triffts den kleinen Sven."
3. Der biologische Lebensrhythmus der Aale
4. Der Aal als Zeichen des Phallus
6. Unschuldige Kindheit: Öligs Wunschtraum
8. Der Vorspann - mehr als nur ein Drehbuch?
9. Banalität und Transbanalität und der eigentliche Perspektivenwechsel: "The step beyond"
"Heute triffts den kleinen Sven."
"Es dauert immer eine Weile, bis sich eins der Kinder bereit erklärt, mit der Ölig zu gehen. Heute triffts den kleinen Sven." (Sz. 18, Perspektive Kind)
Ein anscheinend völlig harmloser Satz, aber ist das wirklich so? Was trifft Sven denn eigentlich? "triffts" ist schicksalhaft konnotiert und besitzt gleichzeitig eine mit Furcht aufgeladene Semantik, welche in der Szene die Dimension eines Subtexts aufmacht und somit einen Ebenenwechsel einleitet (siehe Graphik).
Der Pfeil der paradigmatische Ebene ruft die verschiedenen Bedeutungen auf und öffnet sexuelle Bedeutungsparameter. Sven kann die drohende Gefahr nur ahnen, während der Leser um sie weiß und zum passiven Zuschauen verdammt ist. In Szene 19 (Ölig) sieht man die Ölig heftig am Kind zerren, da es sich weigert, mitzukommen. Dazwischen ist - laut Text - nur die Tüte mit dem Aal, der hier die Funktion eines Katalysators übernimmt, verbindet er doch Kind und Ölig durch seine Zwitterhaftigkeit.
Im Akt des Zerrens kommt eine Gewalt zum Ausdruck, die auf eine sexuelle paradigmatische Ebene deutet. Sexualität ist in diesem Werk immer mit Gewalt und Schmerzen verbunden, nur die Kinder können sie "unschuldig genießen" (Sz.16, Ölig). Das Adjektiv "unschuldig" stimmt allerdings nur, solange sich die Kinder untereinander befinden. Dringt ein Erwachsener, z.B.die Ölig, deren Sexualität im Gegensatz zu jener der Kinder voll ausgebildet ist, in diese Gemeinschaft ein, so schlägt die Besetzung abrupt ins Negative um.
Das biologische Geschlecht (sex) wird beim Menschen mit der Geburt sichtbar, während dagegen das soziale Geschlecht (gender) durch das Sozialisationsfeld nach Konventionen definiert wird. Der Versuch, sich dieser Zuweisung zu entziehen, muß notwendigerweise zu einem Bruch mit den herkömmlichen Rollenerwartungen führen. Diese Situation kann nur die Folge haben, daß das Subjekt ein zwitterhaftes gender auslebt.
Info: Der biologische Lebensrhythmus der Aale
weist den Tieren in den ersten Lebensjahren kein Geschlecht zu. Während sie sich in der Sargasso-See aufhalten, sind sie geschlechtsneutral bzw. Zwitter. Dann wird die Sargasso-See verlassen, erst bei der Rückkehr findet der Aal dort sein Geschlecht. Die Umweltbedingungen bestimmen dabei das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Fischen. Erst nach dieser Umwandlung kehren die Aale in ihre Heimatgewässer zurück, um dort abzulaichen.
Der Aal als Zeichen des Phallus
Der Phallus steht für das
Zeichen des Begehrens. Diese Situation ist an ein Geschlecht gekoppelt.
Innerhalb der patriarchalen kulturellen Ordnung ist der Mann im
Besitz des Phallus und die Frau repräsentiert den Phallus,
da der Mann die Frau begehrt, um die Macht über sie zu besitzen
bzw. zu erhalten.
Im Werk erscheint der Aal als ambivalentes Objekt der Begierde.
Viele Textstellen sind durch die verwendeten Ausdrüke semantisch
sexuell aufgeladen: "der weiß, daß Fett Gift
für mich ist und der spürt, daß ich`s brauche"(Sz.
4, Ölig). Eine sexuelle Aufladung, die gleichzeitig die
psychoanalytische Kastrationsthematik aufruft, wird durch die
Szenen transportiert, in denen erwähnt wird, daß Hohmann
im Moment der Enthauptung des Aals immer sein Glied auf den Tisch
legt. Er ahmt dadurch die Kastration immer wieder symbolisch nach.
Da der Aal von Hohmann mit dem weiblichen Geschlecht besetzt wird,
spiegelt diese Situation die Problematik des Begehrens der Frau
und die Angst vor der Selben wieder. Denn Hohmann versucht den
Aal zu verkaufen, sich also des Zeichens zu entledigen, indem
seine Ängste fokussiert sind.
Die Ölig dagegen spürt ein "unangenehmes Ziehen
im Pimmel" (Sz. 16, Aal), als der Aal geköpft wird.
Auf diese Weise erhält der Aal die Besetzung eines männlichen
Zeichens, denn es wird eine Brücke zum weiblichen Penisneid
geschlagen. Bei der Ölig wird der Fisch zum Signifikant des
Begehrens nach einer männlichen Subjektposition. Diese Interpretation
enthält einen Bruch, da sich gleichzeitig die Ölig dem
Zwang, den Aal besitzen zu wollen, nicht entziehen kann. Das Tier
fungiert im Werk als Zwitterzeichen, da es beide Positionen des
Zeichens des Begehrens einnimmt.
Der Verlust der sexuellen Utopie
der Ölig begründet sich bereits durch ihren Namen. "Ölig"
hat ja etwas mit Öl, einer glischigen Flüssigkeit zu
tun, in die zum Beispiel Aale eingelegt werden können. Die
Ölig umschlingt den Aal regelrecht, und jetzt wird die sexuelle
Konnotation langsam eineindeutig. Aale werden zum Widerpart der
Ölig und dadurch in ihrer Zwitterhaftigkeit bestärkt.
In der Metapher des Öls wird buchstäblich der Aal in
die Ölig eingelegt. Die Folge: ein Geschlechtsakt?
Warum fürchtet sich die Ölig vor dem Aal? Die Zwitterhaftigkeit
des Aals ist für die Ölig insofern erschreckend, da
der Aal in die Sargasso-See, hier also nach Saragossa kommt, um
dort das Geschlecht auszubilden, um genau jenen Zwitterstatus
zu verlassen, den die Ölig anstrebt. Folglich funktioniert
die sexuelle Erfüllung mit dem Aal nicht, dafür eignet
er sich aber desto besser als Identifikationsobjekt, hat doch
auch die Ölig ihre sexuelle Identität fast erreicht
und befindet sich so im gleichen Zustand wie die Aale. Ihr Ziel
ist es aber nicht, in diesem Zustand zu verharren, der das ganze
Werk über anhält, sondern wieder einen neutralen Zustand
der Kinder zu erreichen.
Die Ölig hat auf der einen Seite Angst vor ihrer sexuellen
Identität, sehnt sich aber gleichzeitig auf krankhafte Weise
nach der sexuellen Erfüllung. Aus dieser Ambivalenz entsteht
ein Problem, das die Ölig zu lösen versucht.
Unschuldige Kindheit: Öligs Wunschtraum
Beim Betrachten des Bildes zum
Text fällt auf, daß das kleine Mädchen weiß
geschminkt ist, ja, fast schon eine weiße Maske trägt.
Durch eine Maske wird die Persönlichkeit einer Figur verdeckt
oder sogar umgedreht, und damit öffnet die Maske das Werk,
führt sie doch eine unbekannte Größe ein, eine
Größe, die das Geschlecht des Kindes in Frage stellt.
Zur Erinnerung: Sven muß die Ölig begleiten, nicht
ein kleines Mädchen, aber wir haben ja bereits festgestellt,
daß Kinder noch einen geschlechtsneutralen Status besitzen.
Folglich ergibt sich die Lesart, daß Junge und Mädchen
austauschbar sind und die gleiche Rolle übernehmen können.
Außer den Kinder wechselt auch die Ölig immer wieder
ihre Geschlechtszuweisung und könnte daher ebenso die männliche
Figur im Bild darstellen, während die nackte Frau einen reinen
Objektcharakter besitzt und deshalb auch nur ausschnittweise abgebildet
ist. Sie stellt sowohl das Geschlecht dar, auf das immer wieder
rekurriert wird, als auch die komplementäre Hälfte zum
Mann. In der Verbindung bilden männliches und weibliches
Geschlecht ein Ganzes, das seinen vollkommenen Ausdruck im Zwitter,
und ganz besonders in der unbewußten Zwitterhaftigkeit der
Kinder findet.
Die Hand des Mannes steckt scheinbar
unter dem Rock des Mädchens und dekonstruiert den im Text
ausgesprochenen Wunsch nach Unschuld, da vorgeführt wird,
was geschieht, wenn "der" Ölig als Erwachsener
"die Vergangenheit zum Tischnachbarn" (Sz. 16, Ölig)
hat. In der Logik dieser Betrachtungsweise vergewaltigt "er"
das unschuldige Mädchen, in der Hoffnung, damit den eigenen
kindlichen Zustand wiederherzustellen. Natürlich kann das
nicht funktionieren, da die Entwicklung des Geschlechts vom Alter
abhängt und nicht vom Umgang mit dem restlichen Personal.
So erklärt sich auch das schlechte Gewissen der Ölig
nach dem Genuß des Aals, der hier symbolisch für die
Vergewaltigung des Kindes steht.
Insgesamt gesehen übernehmen die Kinder die Funktion der
Vergangenheit, die für Erwachsene unerreichbar ist. Die Ölig
kann zwar an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren, wird sogar
genau wie die geschlechtsreif gewordenen Aale, durch ihre Triebe
dazu gezwungen, doch ihre Befindlichkeit hat sich seit ihrer Kindheit
geändert. Sie ist jetzt genau wie die übrigen
Erwachsenen - in Saragossa, ein Wortspiel mit Sargasso-See, um
ihre sexuelle Erfüllung zu finden, weshalb die Kinder von
den Erwachsenen allgemein oft als "Eindringlinge" (Sz.
16, Kind) betrachtet werden. Die Ölig sehnt sich aber nicht
nur nach sexueller Erfüllung sondern auch nach Wiedererlangung
der Unschuld. Diese beiden Verlangen überlagern sich und
ständig gewinnt ein anderes die Oberhand. Schließlich
kommt es zu einer Synthese der beiden, da die Ölig glaubt,
durch engen Kontakt mit einem Kind sowohl ihre sexuelle Erfüllung
zu finden als auch ihre Unschuld wiederzuerlangen.
Eine der Perspektiven der "Aaleskorte
der Ölig" ist jene der Kinder und wenn, wie unter 1.
und 6. erklärt wurde, die Befindlichkeit der Kinder von der
Ölig angestrebt wird, so muß man sich erst einmal fragen,
worin jene Befindlichkeit eigentlich besteht. Sicher, man könnte
sich jetzt mit dem lapidaren Adjektiv "unschuldig" (Sz.
16, Ölig) begnügen, aber das bleibt doch sehr an der
Oberfläche. Sicherlich besteht ein Zusammenhang zwischen
Handlungsfreiheit und Unschuld. Kinder müssen, so verlangt
es die Konvention, den Erwachsenen gehorchen, können selbst
aber keine Befehle erteilen. Sie "beugen sich" (Drehbuch
Kinder 17), wie es so schön heißt, können sich
also nicht wehren. Dieses "beugen sich" ermöglicht
einen Rückschluß auf "1. Heute triffts den
kleinen Sven" (Sz. 18, Kinder). Bereits dort muß sich
das Kind Sven dem Willen der Ölig fügen und hat im Prinzip
keine Möglichkeit sich zu wehren, denn obwohl die Kinder
die Ölig "enttarnen" (Drehbuch Kinder 15) haben
sie dadurch nur einen Zugewinn an Wissen
Das "(E)nttarnen" hat indes die Konsequenz, daß
das Adjektiv unschuldig nicht mehr ganz funktioniert, denn zur
Unschuld gehört die Fähigkeit, Freude, Glück und
Zufriedenheit zu empfinden, doch die Ölig "entführt
die Genußfähigkeit der Kinder" (Drehbuch Ölig
18). Was wird den Kindern da genau entzogen? Wie unter "Unschuldige
Kindheit: Öligs Wunschtraum" erklärt, versucht
die Ölig durch engen, stark sexuell konnotierten Kontakt
mit den Kindern eine neutrale Geschlechtszuschreibung wiederzuerlangen.
Dieser Versuch endet für die Ölig mit einem schlechten
Gewissen, das sich in einem "Fluch" (Sz. 12, Kinder)
des "Siechtum(s) und (der) Verzweiflung" (Sz. 12, Kinder)
äußert, und für die Kinder im Verlust der "Genußfähigkeit"
(Drehbuch Ölig 18). Beide könnnen nichts mehr genießen,
und besonders die Ölig findet sich in einem Teufelskreis
gefangen (vgl. Öligs Dilemma), aus dem es kein Entrinnen
gibt.
Doch wie sieht es jetzt aus Sicht der Kinder mit den Aalen aus?
Betrachtet man Szene 8 (Kinder), so fällt auf, daß
der Fisch auf dem Bild alles andere, nur kein Aal ist. Dafür
erheben sich schwarze Büschel oder "Haare" (Sz.
8, Kinder) vom Meeresgrund, die sich durchaus "pflück(en)"
(Sz. 8, Kinder) ließen. Der Fisch stellt nur einen Beobachter
dar, doch seine spitze Form wirkt merkwürdig bedrohlich und
hinterläßt den Eindruck, daß es für Aale
nicht schön ist, "gepflückt" (Sz. 8, Kinder)
zu werden. Allerdings werden sie nicht nach ihrer Meinung gefragt
und sie können sich auch nicht wehren, genausowenig wehren,
wie dies den Kindern möglich ist. Hiermit endet aus der Perspektive
der Kinder aber vorläufig die Gleichsetzung, denn die Aale
werden von ihnen als "Sünder" (Sz. 8, Kinder) und
"Haare des Bösen" (Sz. 8, Kinder) interpretiert.
Das schafft eine Distanz zwischen den Kindern und den Aalen, verweigern
die Kinder doch den Aalen, die ihre symbolhafte Entsprechung darstellen,
genau jenes Adjektiv, das für die Kinder so charakteristisch
ist: "unschuldig" (Sz.16, Ölig). Sie stilisieren
die Aale lieber zu einer bösen, das Schicksal beeinflußenden
Gestalt, die auf das Leben der Figuren große Macht ausübt.
Letzteres ist nun durchaus nicht neu, denn auch alle Erwachsenen
werden von den Aalen merkwürdig angezogen. Doch was ist mit
der negativen Wertung? Da hilft wieder ein Blick in den Text,
denn die Kinder schreiben, daß sie oft von den Erwachsenen
als "Eindringlinge" (Sz. 16, Kinder) betrachtet werden.
"Eindringlinge" befinden sich, was die Besetzung betrifft,
auf einer ähnlichen semantischen Ebenen wie die Aale und
so verbinden sich Kinder und Aale wieder.
Eine weitere Interdependenz findet sich in Szene 10, denn dort
tötet Hohmanns Beil die "Seele" (Sz. 10, Kinder)
der Aale, genau wie die Ölig den Kindern durch ihre Vereinigung
mit ihnen, diesen einen Teil der Seele nimmt, also die davor erwähnte
unschluldige "Genußfähigkeit" (Drehbuch Ölig
18). Die Seele stirbt und jede Gegenwehr man denke hier
an das "panisch(e) [...] um sich (Schlagen)" (Sz. 11,
Kinder) und an das gewaltsame Mitzerren des sich sträubenden
Kindes (Sz. 19, Erzähler) bleibt zwecklos. Beide,
Kind wie Aal, sind verurteilt zum Verlust ihres bisherigen Lebens.
Dieses Ereignis konstituiert sich durch das Verlassen des semantischen
Feldes der Unschuld und das Betreten eines neuen, jetzt aber noch
nicht näher definierten, Raumes. Die einzige vorhandene Definition
besteht in der Abwesenheit der Konnotation "Unschuld",
was zwar ein neues Lebensfeld aufmacht, es aber zugleich schwammig
läßt.
Der Vorspann - mehr als nur ein Drehbuch?
Beim Start der "Aaleskorte"-Seite
sowie beim langsamen Durchlauf wird der User gezwungen, einen
Blick ins Drehbuch des implizierten Erzählers zu werfen.
In einer Art Diashow werden fünf Bilder aufgeblendet und
jede Szene mit einem kurzen Kommentar unterlegt. Da der User in
diesem Moment mit den teils kryptischen Unterlegungen noch nichts
anfangen kann, versucht er so schnell wie möglich, in den
eigentlichen Haupttext zu kommen. Deshalb geht die Bedeutung des
Drehbuchs verloren.
Was entgeht ihm damit? Ein Schlüssel zum Verständnis
der gesamten "Aaleskorte" durch die teils deskriptiven
Kommentare, die interpretatorischen Charakter aufweisen. Diese
Kommentare sind direkte Interpretationen des implizierten Erzählers.
Um die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Perspektiven
zu zeigen, haben wir eine Tabelle mit dem Drehbuch erstellt.
(Tabellenlink)
Dabei darf man nicht vergessen, daß die Bilder eine wichtige
bedeutungstragende Funktion besitzen, da sie oft als einziges
Element die Verbindung zwischen den fünf Perspektiven ermöglichen.
Das Drehbuch gibt durch seine Zusammenführung der Perspektiven
einen Rahmen vor, in dem wie in einem Spiel zwischen den einzelnen
Personen hin- und hergesprungen werden kann.
Banalität und Transbanalität und der eigentliche Perspektivenwechsel: "The step beyond"
Reduziert man die Handlungsstruktur
der Geschichte auf das Wesentliche, ergibt sich eine erstaunlich
einfache, eindimensionale Struktur. Diese läßt sich
in einem Satz zusammenfassen:
Eine Frau geht zum Fischhändler, kauft dort einen frischgeschlachteten
Aal und geht in Begleitung eines Kindes nach Hause.
Es geht somit im Kern um eine Alltagssituation. Meine Behauptung
lautet nun: Dirk Günther und Frank Klötgen haben sich
eine banale Situation vorgenommen und diese unter dem Aspekt einer
größtmöglichen Provokation "aufgemöbelt",
nach dem Baukastensystem mit Tabuthemen gespickt, um den Leser
zu reizen. Diese Tabuthemen sind Kindesmißbrauch, Vergewaltigung,
Kastration, sexuelle Perversion. Von dieser Tatsache bekommt der
Leser, der nur scheinbar die Rolle eines Drehbuchautors oder Regisseurs
einnimmt, beim einmaligen "Durchspielen" nichts mit.
Er hat nur deswegen die scheinbare Regisseursrolle, weil er vordergründig
zwar 6.9 Milliarden Möglichkeiten des Perspektivenwechsels,
aber keinen Einfluß auf die Handlung hat. Was nützen
ihm die Milliarden Möglichkeiten, wenn sie sinnlos sind,
da nach spätestens fünf linear durchgespielten Perspektiven,
keine Neuerung mehr auftritt, zumal die Anzahl der Szenen auf
20 festgelegt ist und - wie bereits gesagt - somit der Hinweis
auf die freie Drehbuchgestaltung zu hoch gegriffen scheint. Bild
und Text der einzelnen Szenen bilden eine untrennbare Einheit,
die nicht veränderbar ist. Beim Einstieg in die Handlungsstränge
muß sogar immer mit der Person des kindlichen Erzählers
begonnen werden, erst bei weiteren Durchgängen ist die Perspektive
der Protagonisten frei wählbar.
Die eigentlichen Entscheidungen werden von den zwei implizierten
Regisseuren bereits im Vorfeld getroffen, dem Leser bleibt nur
noch eine limitierte Auswahl. Befindet man sich in einer gewählten
Sequenz, hat der User keine Möglichkeit auszusteigen oder
"vor- und zurückzuspringen". Außerdem fehlen
Links, die aus der Handlung herausführen.
Die ganze Sache versinkt im Sumpf der Wiederholungen, der Langeweile.
Der denkende Betrachter wird der Sache schnell müde und wird
erkennen, daß ihm die 6,9 Milliarden Möglichkeiten
nichts bringen, da die Story immer dieselbe ist. Hier muß
der Leser eben einen weiteren Perspektivenwechsel oder Fokusshift
vollziehen (6,9 Milliarden + 1) und die Absicht der Autoren offenlegen:
Provokation des Lesers, Ablenkung von dieser Provokation durch
Konfrontation mit Tabuthemen und Verschleierung der technischen
Unzulänglichkeit mit den Perspektivenwechseln. Schon im "Vorspann",
der auf den scheinbaren Filmcharakter einstimmen soll, beginnt
die Provokation, von der der Leser im ersten Moment vielleicht
nichts merkt: fiktive Kritiken fiktiver Zeitschriften, "TV
Tomorrow" statt "TV Today" und weitere andere.
Auch die hochtrabende Aussage, "Drehbuch ist zuschauergeneriert"
kann letztendlich als Lüge überführt werden. Man
muß den Autoren zugestehen, daß sie mit ihrer Methode
Erfolg haben.
Der Leser kann sich auf mehreren Stufen mit dem Text beschäftigen:
Stufe 1: Einfaches Durchspielen
der Geschichte, spielerisches Experimentieren mit den Perspektiven.
Stufe 2: Erkennen des Wiederholungsmoments, Interpretation der
angeschnittenen Themen.
Stufe 3: Erkennen der Provokation, des Baukastensystems, das Spiel
des (mit dem) Leser(s).
Der Schritt von Stufe 2 zu Stufe 3 ist das entscheidende Moment. Wer die Provokation als Experiment durchschaut, wird sich aus dem Kreis der Interpreten und Diskussionsteilnehmer erheben, den Autoren für ihre gelungene Arbeit Respekt zollen und sich weiter auf die Suche nach Hyperfiction machen.