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00 - "Null erstarrt"
(Maja Das Gupta, Thomas Schächtl)


Was ist Projekt Null?

 
Initiator Thomas Hettche umreißt unter dem Titel "Adventskalender und Flaschenpost" das Projekt Null als "eine langsam über das letzte Jahr des Jahrtausends hinwegwachsende Anthologie junger deutscher Literatur". Das Medium Internet ermögliche es, "Beiträge bespiegeln und kommentieren (zu) können mit jener Transparenz und Geschwindigkeit, die erst das Netz ermöglicht mit E-Mail und Chat, Bildern und Tönen, dem unbegrenzten Raum und den flirrenden Konturen der Autorschaft." 
Das vom Dumont-Verlag ins Netz gestellte Projekt Null war also in erster Linie als Autorenprojekt angedacht. Laufzeit: ein Jahr, vom Januar 99 bis Januar 00. Projekt Null ist somit abgelaufen, im Gegensatz übrigens zu  pool , einem vergleichbaren Autorenprojekt, das im Juni 99 von Elke Naters und Sven Lager ins Leben gerufen wurde.Wie bei Null findet auch bei pool eine Auswahl unter den Autoren statt. "Wir laden zu pool ein, aber wir redigieren keinen Text. Die Eingeladenen sind Schriftsteller und Künstler, die ihre Fähigkeiten schon außerhalb des Netzes bewiesen haben.", bemerkt Frau Naters (unter klug) bezüglich der Aufnahmekriterien.
Interessanterweise verzichtet pool bewußt darauf, seinen Lesern ein Archiv zu bieten - anders als Null, das mit dem Jahr 2000 zum Archiv geworden ist. 
Für das kommende Frühjahr ist die Printausgabe des Dumont-Projekts geplant. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, weshalb "Netzliteratur" nun wieder zwischen zwei Buchdeckel gepreßt werden soll. Oder hat Projekt Null damit den Ort gefunden, an den es eigentlich gehört, handelt es sich bei den Texten der Null-Autoren um "verkappte Printliteratur"? Und was ist es, was Netzliteratur auszeichnet?
Aus dieser Fragestellung heraus soll das Projekt Null genauer betrachtet werden, mit dem Ziel, Kategorien zu entwickeln, welche den netzspezifischen Charakter dieses Experiments näher ergründen. Denn für die Autoren stellte sich das Mitwirken an diesem Forum durchaus als Experiment dar - bei der Vorstellung des Projekts Null im Rahmen der Leipziger Buchmesse schilderte beispielsweise Burkhard Spinnen seine ersten "Surfversuche". Er fühle sich im Internet wie Alice im Wunderland. Auch Hettche verweist darauf, daß es sich um Autoren handelt, "für die erstmals die Rituale des Bleistifts nicht mehr gelten". Das Neue ist hierbei nicht das Beiseitelegen des Bleistifts und das Einschalten des Computers als "bessere Schreibmaschine" - das Neue liegt in der Nutzung des Computers als Mittel, mit anderen Schreibenden zu interagieren.

Interaktive Textgenese

Was hat sich für die Mitwirkenden am Null-Projekt also verändert? Weiterhin schreibt jeder Autor seinen Text - aber er stellt ihn im Rahmen des Autorenforums anderen zur Verfügung, die sich auf ihn beziehen können. Durch Verlinkung entstehen intratextuelle Bezüge, unerwartete Sinnzusammenhänge - es entsteht ein eigenes Textgebilde, zu dem jeder Autor seinen eigenen Text beisteuert.  Die Gestaltung der Website als "Sternenhimmel" ist in dieser Hinsicht in ihrer Bildlichkeit stringent: Aus einzelnen Autoren werden Gruppierungen, aus "Sternen" "Sternbilder". Gelungen erscheint uns diese graphische Umsetzung auch, als die "Autoren-Sternbilder" sich um bestimmte Themen bilden, nämlich: Krieg, Von Fern, Aufräumen, Geisterfahrer, Nullung, Bachmann-Preis 1999, Borg, Und Tschüß, Endlos und Sommer. Einziger Kritikpunkt: Technische Mängel sind offenbar der Grund dafür, daß das Anklicken eines "Autorensterns" nicht immer zu dem Betreffenden führt - und nicht jeder im Text auftretende Link wird in der Sternenkarte dokumentiert.
An dieser Stelle wird die Interaktivität zwischen den Schreibenden deutlich, insofern als die Themen nicht vorgegeben waren, sondern aus dem Kommunizieren der Autoren heraus entstanden. Dieses Interagieren führte nicht nur zur Textproduktion, sondern auch zu teilweise hitzigen Debatten (gerade zum Kosovo-Krieg). Die Streitgespräche hatten also nicht nur literarische Inhalte, sondern bearbeiteten aktuelle politische Ereignisse - in einer Weise, die das Buch, die Zeitung, das Fernsehen nicht leisten können, da die Zeitspanne zwischen Ereignis und Kommentierung im Internet gegen "0" geht. Noch nie stand Autoren ein Medium zur Verfügung, das in dieser Gleichzeitigkeit "schnell u n d öffentlich" zu sein vermag. Kein Fernsehtermin, kein Interviewtermin ist zu vereinbaren - nur eine minimale Beherrschung der Technik vonnöten, um seine Meinung zu äußern.
Was die Textproduktion anbelangt, so entsteht durch die Interaktivität der Autoren eine Offenheit des Textgebildes, an dem alle mitwirken, ohne zu ahnen, wie die "Ko-autoren" sich darauf beziehen werden bzw. ob sie sich darauf beziehen werden. So bildet die Autorin Zoe Jenny  einen isolierten "Autorenstern" im Textuniversum; sie ist mit einem Gedicht "Sonne aus Chrom" vertreten, auf das keiner Bezug nahm und hat sich ihrerseits weder an einer der zahlreichen Debatten beteiligt, noch einen Text im Sinne der Verlinkung "weitergeschrieben". Kontrastiv dazu hat Jo Lendle den relativ abgeschlossenen Raum "aufgebrochen", indem er ein Gedicht, das auf der "Art-Seite" der Nasa zu finden ist, durch den Link auf die NASA in seinen Text integriert hat. Außerdem hat er seine Übersetzung des Gedichtes in das Textgebilde unter "gefunden von Jo Lendle" einfließen lassen.

Grenzenloser Raum?

Mit einem Klick "landet" der User also auf der Nasa-Seite, obwohl er gerade noch einen Prosa-Text gelesen hat. Dies mag zunächst den Eindruck erwecken, man befände sich im grenzenlosen Raum. Aber Grenzen werden durchaus gesetzt, und zwar i n n e r h a l b des Projekts."No entry" heißt es für den User. Er darf den Autoren über die Schulter schauen - bei der Produktion des Textgebildes, dessen Anwachsen und Vernetztung er von Tag zu Tag mitverfolgen kann. Ihm selbst wird die Position eines Beobachters zugewiesen. Er kann zwar per e-mail die Texte und Debatten der Schreibenden kommentieren, am Diskurs direkt jedoch nicht teilnehmen. Schon gar nicht am in gewisser Hinsicht kollaborativen Schreibprojekt der Autoren, wie das bei vielen anderen Hyperfiction-Projekten im Internet der Fall ist. Bei Null hat er nur insofern die Möglichkeit, in den Text einzugreifen, als er auswählen kann, welchem Link er folgen will.
Was die Autoren betrifft, so scheint die Spezifik des Raumes insofern Auswirkungen auf den geführten Diskurs zu haben, als dessen öffentlicher Charakter zuweilen verloren geht - so wird manches öffentlich, was vielleicht doch besser privat geblieben wäre, die Inhalte werden "aufgeweicht". Man kann sich natürlich streiten, ob Dagmar Leupolds "Pustekuß" auf Poesiealben-Niveau (Nr. 39) anzusiedeln ist - bemerkenswert ist jedenfalls, daß an dieser Stelle plötzlich das Insidertum der Autoren aufscheint, die auf einmal in mittäglicher Talkshow-Manier aufeinander Bezug nehmen. Am Raum könnte das insofern liegen, als das Bewußtsein, öffentlich zu sein, vor dem heimatlichen Monitor nicht so sehr gegeben ist wie zum Beispiel bei einem Fernsehauftritt. Dazu kommt, daß e-mail-Äußerungen oftmals aus einer gewissen Laxheit heraus verfaßt werden - dies wird im folgenden zu untersuchen sein, nämlich bei der Betrachtung der Position des Autors im Projekt Null.

"Ich bin drin" - Schreiben im Netz

Was verändert sich für den Autor, wenn er für Projekt Null schreibt? Er braucht beispielsweise keinen Lektor. Wirklich nicht? Das ist eine der Fragen, der nachzugehen wäre: Merkt man den "Projekt Null-Texten" an, daß der kritische Blick des Lektors fehlt? Dies könnte sich erst bei einer genaueren Betrachtung und stilistischen Analyse der Texte beantworten lassen - vor allem im Vergleich zu bereits im Druck erschienenen Texten der Autoren, denen ein Lektorat voranging. Die Schnelligkeit des Mediums ist es, die diesen im Printbereich üblichen Zwischenschritt vor der Veröffentlichung unmöglich macht. Und auch in anderer Hinsicht hat die Schnelligkeit Einfluß auf den Autor. Auf die Möglichkeit, Debatten in Echtzeit zu führen, wurde bereits eingegangen. Was die Textproduktion anbelangt, so scheint das Medium die Wahl der Gattung mitzubestimmen. Kurze Formen werden gewählt, was sich vor allem in der Prosa zeigt. Keiner der Teilnehmer hat einen Roman in das Projekt eingespeist. Dies hat wohl auch mit der kurzen Laufzeit von Null zu tun, dürfte aber vor allem mit dem netzspezifischen Charakter des Projekts zusammenhängen, das schnelles Reagieren erforderlich macht - zumindest wenn man nicht wie Zoe Jenny "isolierter Sternenpunkt" bleiben will. In diesem Kontext glauben wir zwei verschiedene Schreibhaltungen zu erkennen: Die eine nutzt die vorhandenen Texte als "Basistext", welcher der Anregung dient. Für den Leser ist allerdings oftmals nicht zu erkennen, wie das als Link ausgewiesene Wort zum Verknüpfungspunkt werden konnte. Die andere Schreibhaltung geht über die bloße Anregung hinaus und verlinkt sich tatsächlich inhaltlich. So findet in Judith Kuckarts textlicher Antwort"Sie sind auch blond, aber anders" auf Dagmar Leupolds "Stau zwischen den Jahren"  eine "Vernetzung" statt, die für den Leser auf der Ebene des plots sofort nachvollziehbar ist: Die Autorin schaltet sich beim Wort "Mann" in den Leupoldschen Text ein und schildert die beschriebene Situation aus der Sicht des Mannes. Und, hätte der Leser nicht die Möglichkeit, das Datum zu Rate zu ziehen, so wüßte er nicht, was zuerst da war: Text oder Reaktionstext. 
Ein spannendes Spiel für die Autoren - wird jemand auf meinen Text reagieren, und vor allem: wie. Das ließe sich dann im Ping-Pong-Prinzip fortführen. Wäre ein solches "Autorenzusammenspiel" mit Beinahe-Live-Übertragung im herkömmlichen Literaturbetrieb denkbar? Wohl kaum.
Das ist es, was das Projekt Null als netzspezifisches Projekt kennzeichnet, das ist es, was es zu einem Stück Netzliteratur macht. Beziehungsweise - das war es. Denn das Autorenzusammenspiel in Echtzeit ist aus, das Projekt als Archiv einsehbar. Und was ist mit der im März erscheinenden Printausgabe? Ist das "Verrat" an der Netzliteratur? Keineswegs. Es ist sogar konsequent gedacht: Denn Null als Projekt ist abgelaufen, "erstarrt". Die Ergebnisse dieses Projekts möchte man vielleicht lieber im Buchdruck archiviert sehen und nachblättern, statt sich im Netz durch ein Archiv zu klicken. Denn Archiv ist nun beides, seit die interaktive Textgenese abgeschlossen ist. 

von Maja Das Gupta und Thomas Schächtl

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