Dada Berlin - von der neuen Kunst zum neuen Leben

Richard Huelsenbeck hatte nach anderthalb Jahren genug von Dada Zürich. Das Cabaret Voltaire hatte sich zu einer festen Einrichtung in der eidgenössichen Kulturlandschaft entwickelt. Die satten Bürger und die reaktionären Studenten Zürichs hatten sich an Dada gewöhnt, schockierend und neu war an den Soireen nichts mehr. Tristan Tzara, ausgestattet mit einem außerordentlichen Geschäftssinn fürs Kunstbusiness, verstand das Cabaret Voltaire immer mehr als reines Forum für abstrakte Kunst. Rückblickend schreibt Huelsenbeck:

"[Ich] sehe in dem Dadaismus Tzaras und seiner Freunde, die die abstrakte Kunst zum Angelpunkt ihrer neuen Erkenntnis machten, keine neue Idee, die darauf Anspruch machen kann, mit Energie propagiert zu werden. Sie sind auf dem abstrakten Wege stehen geblieben, der am Ende vor die Bildfläche zur Realität eines Postzettels führt."


Im Januar 1917 zog Huelsenbeck zurück nach Berlin. Die Situation in der Reichshauptstadt war das genaue Gegenteil von der im friedlichen Zürich. "Der Krieg hatte seine Arbeit getan, viele meiner Freunde waren gefallen, die verzweifelte Ernährungslage beschäftigte alle, theoretisch und praktisch." Es ist klar, dass man hier niemanden hinter dem Ofen hervorlocken konnte, indem man einfach nur abstrakte Kunst vorführt. "Hier musste man mit ganz anderen Mitteln vorgehen, wenn man den Leuten etwas sagen wollte", schreibt Huelsenbeck. Hier ging es darum, die Deutschen aufzurütteln, sie im Mark zu erschüttern. Huelsenbeck hatte nichts geringeres vor, als gegen die deutsche Kultur an sich ins Feld zu ziehen. In Berlin fand er radikale Mitstreiter: Raoul Hausmann, George Grosz, Franz Jung, Wieland Herzfelde, John Heartfield, um nur einige zu nennen. Im Januar 1918 gründete man den Club Dada.
Wie sah dieser Angriff gegen die deutsche Kultur aus? In ihrem Gründungsmanifest richten die Berliner Dadaisten ihre ganze Wut gegen die Expressionisten. Dies mag überraschen, ist doch der Expressionismus keineswegs das, was man als erstes mit der deutscher Kultur des Wilhelminismus assoziiert. In dem Manifest heißt es:

"Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, daß sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ... Hat der Expressionismus unsere Erwartungen auf eine Kunst erfüllt, die uns die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt? Nein! Nein! Nein!"

Die Erklärung für die Abneigung gegen die Expressionisten findet sich im folgenden Satz:

"Unter dem Vorwand der Verinnerlichung haben sich die Expressionisten... zu einer Generation zusammengeschlossen, die heute schon sehnsüchtig ihre literatur- und kunsthistorische Würdigung erwartet und für eine ehrenvolle Bürgeranerkennung kandidiert."

Die Dadaisten richten sich also gegen den Expressionismus als eine innerliche Kunst. In seinen Dada-Rückblick schreibt Huelsenbeck:

"Die Deutschen begannen sich im Jahre 1917 stark auf ihre Seele zu besinnen. Das war die Zeit, in der der Expressionismus anfing, Modesache zu werden, da er seiner ganzen Einstellung nach dem Rückzug und der Müdigkeit des deutschen Geistes Vorschub leistete".

Die Dadaisten verstanden den Expressionismus als neueste und damit verachtungswürdigste Variante einer (in ihren Augen typisch deutschen) Auffassung von Kunst als Refugium vor den Schrecknissen des Alltags und damit als das Paradebeispiel eines spießbürgerlichen, biedermeierlichen Kunstverständnisses.
Aber noch aus einem anderen Grund lehnten die Berliner Dadaisten alle bisherige deutsche Kunst und Kultur ab. "In diesem Krieg haben sich die Deutschen... mit Goethe und Schiller nach außen und innen zu rechtfertigen versucht". Erinnert sei hier nur an Thomas Manns "Gedanken im Krieg", in denen er mittels deutscher Kultur den Krieg schönredete, ja sogar noch die Kultur am Kriege wachsen sah. Die Berliner Dadaisten sahen diese Kulturauffassung durch den Krieg nicht etwa erschüttert, vielmehr drängte sich ihnen die Kontinuität dieses Kulturbegriffes auf. 1919 schreibt Raoul Hausmann in seinem "Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung":

"Wie die Werke dieser Klassiker das einzige Gepäck der deutschen Soldaten und Tag und Nacht ihre einzige Sorge waren, so war es heute der Regierung unmöglich, die Geschäfte anders als im Geiste Schillers und Goethes zu führen."

Der alten, in der Ansicht der Dadaisten schädlichen, weil zum einen sedierenden, zum anderen falschen Nationalstolz speisenden Kunst der Klassiker aber auch der Expressionisten setzen die Dadaisten ihre neue, die Essenz des Lebens ins Fleisch brennende (s.o.) entgegen. Im Dadaistischen Manifest nennen sie etwa Lyrikformen wie bruitische, simultanistische und statische Gedichte. Mittels dieser Formen sollen die Bewusstseinsinhalte und tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert (s.o.) werden. In der bildenden Kunst verfahren die Dadaisten ähnlich, wenn sie fordern: "Dada will die Benutzung des neuen Materials in der Malerei." Gemeint ist damit die Kunstform der Collage, die vor allem von Grosz, Hausmann, Herzfelde und Heartfield eingesetzt wird.
Aber den Dadaisten geht es nicht nur darum, eine neue Kunst zu schaffen. Im Dadaistischen Manifest heißt es: "Dada ist eine Geistesart". Dada wird auch verstanden als Lebensauffassung, als Kampfruf gegen die Weimarer Kultur, gegen den immer noch herrschenden wilhelministischen Spießergeist. Die Dadaisten hatten den Anspruch, die Kunst wieder zum Leben zurückzuführen und - das vor allem - sie hatten den Anspruch, auf das Leben einzuwirken. Einen ähnlich umfassende Kunstauffassung hatten freilich vorher schon die Futuristen. Auch sie wollten ja das Leben und nicht nur die Kunst revolutionieren. Die Futuristen waren es ja auch, die die - nun von den Dadaisten gebrauchten - Literaturformen wie das bruitistische Gedicht entwickelten. Es geschah also wahrscheinlich aus Gründen der Profilierung, dass die Dadaisten in ihrem Manifest auch auf die Futuristen einhacken ("Schwachköpfe") und auch ihnen eine ästhetische Kunstauffassung vorwerfen.
Die nicht-ästhetische, die ins Leben eingreifende Kunst der Dadaisten sollte vor allem eins: Den Spießer schockieren. Die auf der ersten internationalen Dadamesse, 1920 in Berlin ausgestellten Collagen (mit Titeln wie "Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die erste Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands") widersprachen jedem bourgeoisen Kulturverständnis. Die Werke erregten aber nicht nur wegen der als abstoßend empfundenen Form der Collage Aufsehen, auch inhaltlich wurden die Bürger beleidigt (namentlich von den Arbeiten Groszs, der mit Vorliebe das Militär, den Kapitalismus, die Justiz oder ähnliche, dem Bürgertum sakrosante Themen durch den Dreck zog) Dazu kam, dass die Dadaisten mit ihrer bewusst dandyhaften und mondänen Kleidung im wirtschaftlich und moralisch arg mitgenommenen Nachkriegsberlin Aufsehen erregten.
Aber die Verunsicherung der Gesellschaft fand nicht nur auf künstlerischem Gebiet statt. Raoul Hausmann schreibt in seinem Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung:

"Der früher so christliche Deutsche ist Goethe-Ebert-Schiller-Scheidemannianer geworden - aus seinem Verwechslungsspiel zwischen Besitz und Nutznießung reißt ihn nur mehr der Gotthilfliebekinderschreck des Bolschewismus".

Tatsächlich liebäugelten die Dadaisten mit dem Kommunismus - weil nichts von der Bourgeoisie mehr gefürchtet wurde als eine bolschewistische, die Reichen enteignende Revolution. Aber auch wenn George Grosz und Wieland Herzfelde vorübergehend mit der KPD sympathisierten, kann man nicht davon sprechen, dass der Berliner Dadaismus sich politisch vereinnahmen ließ. Das wird schon aus dem Flugblatt "Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland" Huelsenbecks und Hausmanns aus dem Jahr 1919 deutlich. Es ist aufgemacht wie ein politische Proklamation und hebt auch so an:

"Der Dadaismus fordert: 1. Die internationale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden eines radikalen Kommunismus"

Aber schon der zweite Punkt fordert so etwas sinnloses wie die "Einführung der progressiven Arbeitslosigkeit" und das Pamphlet endet in der Forderung nach "sofortiger Regelung aller Sexualbeziehungen". Hier geht es um Verunsicherung, nicht um parteipolitische Agitation. Bezeichnender Weise lehnte die kommunistische Presse die Dada-Messe von 1920 mit den gleichen Argumenten ab, wie die Konservative: Das sei eine Sammlung von Perversitäten und keine Kultur.
Ein weiteres Mittel der Dadaisten zur Verwirrung des Kulturbetriebes war das Abhalten von turbulenten Soireen. Hier wurde Nonsens veranstaltet wie ein Wettrennen zwischen einer Schreib- und einer Nähmaschine. Daneben rezitierte man die neuesten Laut- und Simultangedichte. Laut Huelsenbecks Memoiren drängten sich bei der großen Dada-Tournee durch Deutschland regelmäßig um die zweitausend Besucher in den Hallen. Es soll öfter zu Tumulten und Räumungen gekommen sein.
Freilich - die schockierende Wirkung auf die Bürger konnte nur so lange vorhalten, so lange Dada noch neu war. Um der Gefahr zu entgehen, ihre eigenen Epigonen zu werden, lösten die Berliner Dadaisten nach der Messe im August 1920, am Höhepunkt des Erfolgs, den Club Dada auf. Bedeutende Werke - etwa von George Grosz - wurden freilich noch weiterhin geschaffen.
Misst man abschließend den Berliner Dadaismus an seinem Anspruch, auf das Leben, auf die Gesellschaft zu wirken, muss man hingegen feststellen: Bis auf die Schockwirkung bei einigen Kulturbürgern (die sich dann damit beruhigen konnten, dass das ja eh nur Perverse seien) rief der Dadaismus nichts hervor. Was bleibt, ist die - längst in den Kanon zwischen Goethe, Schiller und den Expressionisten aufgenommene - Kunst.

Paul-Philipp Hanske