Heinrich Mann: Das junge Geschlecht
(1917)
[In: Heinrich Mann: Essays. Berlin 1955]
Während Thomas Mann an seinen Betrachtungen arbeitete, erschien im liberalen Berliner Tageblatt' ein Aufsatz seines Bruders unter dem Titel Das junge Geschlecht, der ganz in der Linie der Vorkriegsessays und auch der politischen Publizistik während der Weimarer Republik pazifistische und demokratische Grundsätze vertrat.
Als einer der wenigen Pazifisten der ersten
Stunde unter den deutschen Literaten bedeutete der Erste Weltkrieg
für Heinrich Mann den Höhepunkt und auch das Ende eines
kulturellen und vor allem zivilisatorischen Niedergangs: Antiintellektualismus,
Dekadenz und Rückzug der Dichter in einen Elfenbeinturm der
Ästhetik seien Kennzeichen der Jahre vor 1914 gewesen, "die
Demokratie, die Humanität, der freie literarische Geist und
das Bewußtsein der Einheit mit unserm Erdteil, alles war
seit 1870 zurückgegangen." (DJG, S. 15) Diese Kritik
richtete sich in erster Linie gegen Schriftsteller vom Format
seines Bruders, der in seinem Essay Gedanken im Kriege
(1914) eine radikale Trennung von Kunst und Politik gefordert,
den Krieg als kulturelle "Reinigung" emphatisch begrüßt
und durch seine konstruierte Gegenüberstellung von Kultur
und Zivilisation einer massiven Frankreichhetze den Weg geebnet
hatte.
Heinrich Mann hingegen verstand sich als Verfechter einer engagierten,
zukünftige Wirklichkeit antizipierenden Literatur. Die Aufgabe
eines Schriftstellers sah er nicht allein in der Mitwirkung am
gesellschaftlichen Leben, sondern vor allem als korrigierende
und verändernde Eingriffe in die politische Wirklichkeit
und die bestehenden sozialen Verhältnisse. Seine Kunst hatte
dem Leben zu dienen, Kernforderung des Heinrich Mannschen Aktivismus
war die Synthese von Geist und Tat (Essay von 1910). Der
Typus des Politiker-Schriftstellers schwebte ihm vor, er fühlte
sich zugehörig zu jener Gruppe von Intellektuellen, die mit
Zola und der Dreyfus-Affäre entstanden waren und die sich
die literarische Kontrolle der Macht zum Ziel gesetzt hatten.
Das Vorbild für diese Kunstauffassung lieferte ihm Frankreich
als Symbol einer literarischen und politischen Einheit. Eben jenes
Frankreich, daß Thomas Mann mit der verabscheuten Zivilisation
gleichsetzte.
Heinrich Mann verband aber gerade diese Zivilisation mit dem Fortschritt,
mit der Umsetzung der Ideen der Aufklärung, auf deren Basis
er sein Kulturverständnis aufbaute. Einen Gegensatz zwischen
Kultur und Zivilisation gab es für ihn nicht.
So appelliert er in seinem Essay an eine junge Generation, "die
die Beschlüsse der Vernunft für bündig hält,
im Geist die Tat schon mitbegreift, ja, die Literatur und die
Politik, solange ruchlos getrennt, endlich wieder vereint in ihrem
Herzen." (DJG, S. 14) Ein neuer Staat müsse geschaffen
werden, der die Ideale von Volkssouveränität und Demokratie
verwirkliche, und eine verantwortungsvolle und friedliebende Jugend
sollte die Grundlage für ein neues Volk bilden.
Wenn man davon ausgeht, daß die aufklärerische Basis, von der aus Heinrich Mann argumentiert, keineswegs originell war und auch seine politischen Postulate schon während der Französischen Revolution formuliert wurden, ist die Anwendung des Modernebegriffs auf seine Essays sicherlich schwierig. Auch sprachlich verbleibt er in gewohnten Bahnen. Zwar erlebte die Essayistik nach der Jahrhundertwende eine neue Blüte, bekannt war diese literarische Diskussionsform aber schon seit Montaigne und Bacon. Dennoch, der Typus des Politiker-Schriftstellers in der Ausprägung des Zolaschen Intellektuellen war neu, ebenso wie die Möglichkeit zur tatsächlichen Umsetzung demokratisch-parlamentarischer Reformen. Heinrich Mann war so vor allem ein Repräsentant der politisch-gesellschaftlichen Moderne, auch wenn er literarisch auf ausgetretenen Pfaden blieb.
Linda Brüggemann