Karl Kraus: In dieser großen
Zeit.
[In: Die Fackel. Heft 404. Wien
Dezember 1914]
Stellung des Textes zum Krieg
Schon im August 1914 ging Karl Kraus gegenüber
Freunden von einer Kriegsdauer von zwei Jahren aus. Damals glaubte
keiner, der Krieg würde mehr als ein paar Monate oder allerhöchstens
ein Jahr dauern. Kraus war während des Krieges immer gut
informiert über die Zustände an der Front, da ihm Freunde
von dort Berichte schickten. Er selbst war für untauglich
befunden worden.
Kraus' wohl bedeutendstes Werk, Die letzten Tage der Menschheit
entstand während und aufgrund des Krieges. Kraus sammelte
Zeitungsausschnitte, Postkarten, Briefe, Flugblätter u.ä.
und verarbeitete sie zu Szenen. Von Akt zu Akt steigert sich der
Wahnsinn des Krieges und die Absurdität des Verhaltens an
der Heimatfront. Neben diesem 800 Seiten füllenden Drama,
das erst am Ende des Krieges erschien, zeigt sich Kraus' Kritik
am Krieg in der Zeitschrift "Die Fackel" . Diese war
die einzige deutschsprachige Zeitschrift, die dem Ersten Weltkrieg
von Anfang an und durchgehend kritisch gegenüberstand.
Am 19. November brach Kraus sein anfängliches Schweigen und
hielt seine erste Vorlesung während des Krieges. Sein Vortrag
"In dieser großen Zeit" erschien dann im Dezember
in der ersten "Fackel" seit Juni 1914.
In diesem Aufsatz ironisiert Kraus die allgemeine Kriegsbegeisterung
und gibt der phrasenhaften, oberflächlichen Lebensweise und
dem übertriebenen Ökonomismus die Schuld am Krieg.
"Das aktive Böse dieser Welt ist heute in Westeuropa
in der Form der Formlosigkeit in Presse und Publikum zu Hause,
in Parlamentarismus, Wählerschaft, Bank- und Geldwirtschaft,
lauter anonymen, vollkommen verantwortungslosen, nicht fassbaren
Massenmächten." [Karl Kraus: Die Fackel 400-403, S.
58] schreibt er in einem anderen Fackelheft zu Beginn des Krieges.
Kulturbegriff des Textes
Schon früh entwickelte sich Kraus zu
einem der schärfsten Kritiker der Schreibenden Zunft; seine
Abneigung zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk und durch
die Hefte der Fackel. Er gab verantwortungslosen Journalisten
und Kriegsgewinnlern die Schuld an der Entwicklung des Krieges.
Dieser immense Haß gegen die Presse läßt sich
zurückführen auf ihre Machtstellung, die bedingt war
durch das absolute Monopol der Nachrichtenverbreitung als erstes
- und damals einziges - Massenmedium. Die Zeitungen waren es,
die die öffentliche Meinung prägten. Diese wiederum
waren abhängig von den sogenannten "Pressebaronen"
- die politische Stimmung im Volk lag also in der Hand manipulierbarer
Privatleute. Es wurden bewußt verschiedene Mittel zur Manipulation
der Bevölkerung eingesetzt, so war es z. B. durchaus üblich,
als Nachrichten getarnte Anzeigen zu veröffentlichen.
Aus dieser sprachkritischen Position heraus zeigt Kraus die Phrasenhaftigkeit
der Welt auf. Schon im Titel des besprochenen Artikels zeigt sich
die Kraussche Zitattechnik, die ihm als Mittel zur Darstellung
dieses Realitätsverlusts der Gesellschaft dient: "In
dieser großen Zeit" ist eine Anspielung auf die Rechtfertigungsrede
Kaiser Willhelm II. nach Ausbruch des Krieges (14. 8. 1914). Im
folgenden wird dieses Zitat in einen ironischen Zusammenhang gestellt.
Die Sprache ist das Mittel, den Zustand des Kulturverfalls, der
schon nicht mehr vorstellbar ist, geschweige denn in Sprache zu
fassen (vgl. S. 2: "Wer etwas zu sagen hat, trete vor und
schweige!"), zu erkennen und darzustellen.
Kraus benutzt die Sprache als Mittel zur Erkenntnis, als "die
Wünschelrute, die gedankliche Quellen findet." [Karl
Krausl: Die Fackel. 277-278, S.61]
Aufgabe des Dichters / der Literatur
"[Kraus] selbst sah sich in der Rolle
eines Anwalts der öffentlichen Moral, welcher Korruption,
Unfähigkeit und kleinliche Willkür in jedem Bereich
aufdeckte." [Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse.
Wien 1995, S. 64]
Kraus sieht sich als außenstehenden Kritiker, der die Sprache
- deren Verfall aus dem Niedergang der Menschheit resultiert,
ihn wiederspiegelt ihn gleichzeitig auch wieder mitbewirkt und
fördert - zu retten versucht. Distanziert kritisiert er einsam
(zumindest anfänglich) mit boshafter Ironie die öffentliche
Meinung und Ihre Folgen.(vgl: "Die letzten Tage der Menschheit":
Die Figur des Nörglers als alter ego Kraus')
Was ist an diesem Text modern?
Inhaltlich ist Karl Kraus ist der modernste
unter den ansonsten stark im Bürgertum verankerten Autoren.
Modern sind seine Kritik am technischen Fortschritt und an der
extremen Orientierung der modernen, industrialisierten Gesellschaft
an der Ökonomie.
Formal ist sein Zugang zu diesen Thesen über die Sprache
als Medium der Darstellung und der Erkenntnis der offensichtlichste
moderne Aspekt. Eine genaue Untersuchung der zerrissenen, von
allen Konventionen losgelösten Struktur der "letzten
Tage der Menschheit" führt zu weiteren formalen Modernismen.
Annemarie Fischer
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