Futurismus - Dadaismus

Die europäischen Avantgarden Futurismus und Dadaismus sind beide stark auf "den Krieg" bezogen - in ihrem Verhältnis dazu unterscheiden sie sich aber durchaus. Ist der Futurismus eine Vorkriegsavantgarde, für die der Krieg geradezu als Verwirklichung des futuristischen Konzepts von heroischem Menschenbild, Technikbegeisterung und revolutionärem Erneuerungsdrang erscheint, entsteht Dada in Zürich in direkter Reaktion auf den ersten Weltkrieg. Diese Unterschiede in der Bewertung des Phänomens "Krieg" bzw. des realen ersten Weltkriegs, die vom jeweiligen Konzept von "Modernität" nicht zu trennen sind wollen wir hier untersuchen.

Die einzige Hygiene der Welt

"Der Krieg" ist von Anfang an Kernstück des futuristischen Programms. Schon 1909, im Gründungsmanifest des Futurismus von Filippo Thomaso Marinetti, heißt es:

"Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes."

Diese Kriegsbegeisterung hängt mit dem futuristischen Konzept von Modernität zusammen: Wie alle künstlerischen Strömungen, die für sich in Anspruch nehmen, "modern" zu sein, will auch der Futurismus das "Neue" - nur beschränken sich die Futuristen dabei nicht auf das Feld der Kunst. Im dritten Punkt des "Manifest des Futurismus" heißt es zwar auch:

"Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.",

doch bei der Forderung nach einer Erneuerung der Literatur bleibt Marinetti nicht stehen. Der Futurismus ist nicht nur Kunst-, sondern Lebensauffassung: Er versteht sich als Avantgarde - Marinetti war einer der ersten, die den Begriff für sich und seine Bewegung beanspruchten - einem Konzept, dass die Autonomie der Kunst aufheben und sie zurück an die Lebenspraxis binden will. Der Kampf gegen den "Passatismus", also gegen alles Rückwärtsgewandte ist auch ein politisch - weltanschaulicher. Schon die Form, in der sich Marinetti äußert, das Manifest, kommt eigentlich aus dem Politischen, und bereits im "Manifest des Futurismus" 1909 finden sich durchaus revolutionäre Anklänge:

"Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken!... Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen!... Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!... Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder."

Gegen die Geisteshaltung des Passatismus setzten die Futuristen den "Kult des Fortschritts und der Geschwindigkeit, des Sports, der physischen Kraft, des Wagemuts, des Heroismus und der Gefahr" und fordern die "Entmachtung der Toten, der Alten und der Opportunisten zugunsten der kühnen Jugend", wie Marinetti 1913 im ersten "Politischen Programm des Futurismus" schreibt. Daneben stehen aber bereits nationalistische Forderungen wie "eine zynische, schlaue und aggressive Aussenpolitik" und "ein Volk, das stolz darauf ist, italienisch zu sein."

Das flammende Bekenntnis der Futuristen zu Modernisierung und Technik, zu einem heroischen Vitalismus gipfelt in der Feier des ästhetisierten Krieges. In ihm vereinigen sich das heroische Lebensprogramm mit der Bejahung von Technik, Geschwindigkeit und Fortschritt, der Krieg erscheint als konsequentes Mittel im Kampf gegen den Passatismus.

Im Manifest "Tod dem Mondschein" von 1909 erscheint der Krieg noch als Selbstzweck: "Krieg? Gewiß!... Unsere einzige Hoffnung, unsere Existenzberechtigung und unser Wille...", heißt es da, und weiter unten: "Die Seele muß - hört ihr - muß den Körper in Flammen setzen, wie ein Brandtschiff, das gegen den Feind gesandt ist, gegen den ewigen Feind, den man erfinden müsste, wenn er noch nicht existierte", als aber ein realer Krieg vor der Tür steht, der Feind nicht erst erfunden werden muss, zeigt sich, wie leicht diese avantgardistische Kriegsbegeisterung sich politisch vereinnahmen lässt. Wurde der "Passatismus" früher als Phänomen in der eigenen Gesellschaft bekämpft, wird er nun mit den Kriegsgegnern im ersten Weltkrieg identifiziert. Die politische Konstellation des Krieges wird auf eine einfache graphische Darstellung reduziert: Die "Sintesi futurista della guerra" von 1914 stellt Futurismus und Passatismus als Kriegsgegner einander gegenüber. Auf der einen Seite stehen die Türkei, Österreich und Deutschland, wobei letztere durch wenige Schlagwörter wie Schwerfälligkeit, Rohheit oder Pedanterie charakterisiert werden, (die Türkei nicht einmal dessen wert scheint, ihr wird eine Null zugeordnet). Auf der anderen Seite steht die Fraktion des Futurismus, bestehend aus Russland, Frankreich, Belgien, Serbien, England, Montenegro, Japan und Italien, wobei Italien "alle Stärken und Schwächen des Genies" bescheinigt werden.

Konsequenterweise setzen sich die Futuristen dann auch vehement für den Eintritt Italiens in den Krieg ein. Als es soweit ist, bilden sie eine "Freiwilligenkompanie" und lassen "Verse, Pinsel, Meißel und Orchester beiseite".

Zwei Jahre später sieht es allerdings anders aus: Antonio Sant'Elia und Umberto Boccioni sind gefallen, Luigi Russolo hat sich dem Okkultismus zugewandt und Carlo Carrà zusammen mit Giorgio de Chirico die "pittura metafisica" begründet, die mit futuristischer Malerei nicht mehr viel zu tun hat.

Marinetti jedoch, obwohl er die Materialschlachten des Krieges selbst miterlebt hat, glorifiziert den Krieg nach 1918 weiterhin.

Im Gegensatz zu deutschen Dichtern wie Thomas Mann, der bei Kriegsausbruch nicht weniger in nationale Begeisterung ausgebrochen war wie Marinetti, sich angesichts der deutschen Niederlage aber gezwungen sah, dieses Verhalten zu überdenken, steht Italien auf der Seite der Sieger. Es gibt also keinen Grund, die nationale Begeisterung, die in den Futurismus eingegangen war, zu revidieren.

Marinetti beginnt allerdings, den politischen Futurismus vom künstlerischen zu trennen, und sich auf die Seite der Politik zu schlagen. In der Schrift "Eine künstlerische Bewegung begründet eine politische Partei" heißt es:

"Die Partei des italienischen Futurismus wird sich von der Bewegung des künstlerischen Futurismus klar unterscheiden. Letzterer wird sein Werk der Entrümpelung und Stärkung der schöpferischen italienischen Genies weiterführen. Die Bewegung des künstlerischen Futurismus ist als Avantgarde der künstlerischen Sensibilität Italiens der langsamen Sensibilität des Volkes mit Notwendigkeit stets voraus. [...] Im Unterschied dazu erahnt die Partei des italienischen Futurismus intuitiv die akuten Bedürfnisse und interpretiert präzise das Bewusstsein der gesamten Rasse in ihrem hygienischen, revolutionären Elan. Der Partei des Futurismus können sich alle Italiener anschließen, Männer und Frauen aus jeder Klasse und jeden Alters, auch wenn sie über keinerlei Begriff von Kunst und Literatur verfügen."

Mit dieser Trennung von Kunst und Politik verweist Marinetti die Kunst zurück in den Bereich der Autonomie. Sieht man den Versuch der Aufhebung eben jener Trennung von Kunst und Lebenspraxis als gemeinsames Kennzeichen der historischen Avantgarden (Peter Bürger), so gibt Marinetti damit das Avantgardistische des Futurismus preis.
In seiner Rede "Die Sturmtruppen, Avantgarde der Nation" von 1919 sagt er selbst: "Ich bin Futurist, also revolutionärer Patriot". Die Befreiung und Erneuerung sieht er in dieser Rede nicht mehr als Aufgabe der Kunst, sondern des Militärs. Es verwundert daher nicht, dass Marinetti später den Faschismus als politische Realisierung des Futurismus sieht, in dem Buch "Futurismo e Fascismo" von 1924 gar die Geschichte des Futurismus zu einer politischen erklärt, die in Krieg und Faschismus aufgehen müsse.

Der Krieg bewirkte bei den Futuristen also eine Politisierung der Avantgarde, aus Revolutionierung der Kunst und Gesellschaftskritik wurde nationaler Chauvinismus. Ob man angesichts des staatlich geförderten "zweiten Futurismus", der nach der Machtergreifung Mussolinis 1922 vor allem in der Architektur von Bedeutung war, noch von "Avantgarde" sprechen kann, ist fraglich. Von Auflehnung und dem Wunsch nach Neuem ist in dieser Staatskunst keine Spur mehr zu finden.

Vera Bachmann