Detailreiche 3D-Graphik, bewegte
Bilder, naturgetreue Geräuschkulisse - ist das nun der pure
Selbstzweck, die Lust am perfekten Design, eine kreative Spielerei?
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, aber dieser Eindruck
bleibt nicht lange bestehen.
Je länger man sich in dieser Welt bewegt, desto mehr kommt
man zu dem Schluß, daß uns diese Form des Erzählens
einfach nur unter Einbeziehung mehrerer Sinne auf Umwegen zur
Geschichte zurück bringt.
Das erste Gebäude, das man auf Riven betritt, zieht den Betrachter
durch augenscheinlich symbolträchtige Bilder in den Bann,
deren eigentlich Bedeutung zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennbar
sein kann. Man kann lediglich erahnen, welche Geschichte sie erzählen.
Optisch stark an Kirchenfenster erinnernd,
drängt sich ein fast religiöser, archaischer Charakter
auf, der ein Schöpfungs- aber auch Untergangsszenario heraufzubeschwören
scheint. Die Bilder sprechen für sich selbst, aber erst nach
und nach, wenn man die Insel ein wenig näher erkundet hat,
erschließt sich der tiefere Sinn der Motive, und die ersten
intuitiv assoziativen Ahnungen bestätigen sich.
Zweifelsohne erzählen uns Myst und Riven nicht nur durch
bloße Textexistenz. Die vielen audiovisuellen Effekte sind
auch nicht als bloße Illustration zu verstehen, vielmehr
scheinen sie - völlig sprachlos - bald mehr zu plaudern und
ein ganzheitlicheres Bild der fiktiven Welt zu erschaffen, als
das ein herkömmlicher Text könnte.
Es ist auffallend, wie sehr das Buch trotzdem Dreh- und Angelpunkt
in Myst und Riven bleibt. Die Spiele beginnen beide mit einem
Buch, durch das man in die jeweilige Welt eintreten kann, das
Zentrum der Hauptinsel von Myst bildet eine Bibliothek,
durch ein Buch soll der böse Herrscher bezwungen werden -
Bücher spielen an allen Schlüsselstellen eine entscheidende
Rolle.
Reiner Zufall?
Bei der Betrachtung der verschiedenen Funktionen, die die Bücher
haben können, merkt man schnell, daß hier in vielseitiger
Art und Weise mit diesem Symbol gespielt wird. Es gibt da zum
einen Bücher, die mit gewöhnlichem Text
versehen sind und die Funktion haben, Informationen zu geben;
Tagebücher, die Einblicke in die Geschichte der Insel geben,
bei der Lösung von Rätseln helfen, usw. Zum anderen
gibt es Bücher, durch die man in fremde Welten
gelangt und zwar nicht nur gedanklich, sondern tatsächlich;
sie dienen als Verbindungen zwischen den Welten. Eine dritte Art
sind die sogenannten Gefängnisbücher,
in denen man Menschen gefangen halten kann oder selbst gefangen
werden kann. Ausserdem gibt es Personen, deren Macht zum Großteil
darin besteht, daß sie durch Schreiben Welten erschaffen
können und damit auch das Schicksal ihrer Bewohner in den
Händen halten.
Was herauskommt, wenn man all diese Funktionen zusammen betrachtet,
sind genau die Eigenschaften, die man dem Medium Buch klassischerweise
zuschreibt: Es kann informieren, in fremde Welten versetzen, gefangen
nehmen und neue Welten erschaffen. In dieser völlig anderen
(?) Literaturform wird also gerade wieder die vielseitige Macht
des "guten alten Buches" zum Thema, und zwar zu einem
nicht gerade nebensächlichen.
Vielleicht bringt uns diese Art der Literatur zurück zu einem
neuen alten Verhältnis zwischen Text und Bild, wie Michael
Charlier in seinem Aufsatz "Von der Armenbibel zu Myst"
feststellt.
Hier habe ich die Geschichte nicht nur als Buchstaben auf Papier
vor mir, sondern ich bewege mich tatsächlich, zumindest virtuell
tatsächlich in ihr. Ich kann sie hören, sehen, beeinflussen
und mich selbständig fortbewegen.
Mit ihrer komplexen Bilderwelt, die oftmals geradezu danach schreit,
interpretiert zu werden, können Myst und Riven auch durchaus
intellektuellen Ansprüchen gerecht werden und sind weitaus
mehr als "nur" Spiele. Die komplexen Metaphern erscheinen
in einem größeren Zusammenhang und sind keinesfalls
bloßer Selbstzweck. Mithilfe der multimedialen Effekte,
kreieren sowohl Myst als auch Riven eine neuartige, eigenständige
Welt ohne dabei aber auf traditionelle Gut-Böse-Strukturen
zu verzichten. Sie sind dabei andererseits viel näher an
der Realität als gewöhnlicher Text, da hier alle Sinne
des Manschen gleichzeitig stimuliert werden und so ein plastisches,
die Illusion verstärkendes Bild ensteht.
"Lesen" wird zur sinnlichen Erfahrung.