1. "Wo blieb der Raum? Wo blieb die Zeit?" eine Parallele
[...]
Alaska ist neben mir und China,
Die Stadt an der Seine und die Städte an der Newa,
Städte im Untergang und Städte im Anfang,
Rom und Sao Paulo.
[...]
Überall in der Welt bin ih in dieem Augenblick [..].
Was soll das sein?
Ein begnadeter Dichter reimt begeistert übers Internet?
Mit einem Klick von Rom nach Sao Paolo.
Mit der ganzen Welt in Verbindung stehen.
"Global village".
Aber nach dem Surfen dann plötzlich die Erkenntnis:
[...]
Wo blieb der Raum? Wo blieb die Zeit?
Sie scheinen wie verfallen,
Das Ohr sucht weit, das Auge weit,
Und alles kommt zu allen.Doch schaust Du auch den Bruder an,
Der Du die Fernen siehest?
Lauschst Du auf seinen Herzschlag dann,
Der Du das Nahe fliehest?
[...]
Gefahr!
Der Mensch entfremdet sich von seiner Umwelt!
Soziale Kontakte werden vernachlässigt!
Er verliert sich im Netz!
2. "Bedauerlich" zwei gefloppte Wettbewerbe
Man könnte überspitzt feststellen:
Ein neues Medium taucht auf und schon wird krampfhaft nach neuen
literarischen Formen gesucht.
Vor allem Autoren, die sich in den "alten" Medien bereits
einen Namen gemacht haben, werden - oder fühlen sich - angehalten,
sich über diese "neue" Literaturform Gedanken zu
machen (z.B. Projekt "Null").
Mittel zum Zweck ist jeweils ein Preisausschreiben:
1927 veranstaltet die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft ein Preisausschreiben für Hörspiele, |
"Das Preisausschreiben hat den Zweck, weitere Kreise von Schriftstellern auf die Bedeutung unds Notwendigkeit besonderer Rundfunkspiele aufmerksam zu machen und dadurch den Gedanken des Hörspiels zu fördern." (Der Deutsche Rundfunk, Heft 5 / 1927, S. 293) |
1996 initiieren die ZEIT und IBM einen Wettbewerb für "Netzliteratur". |
"Ziel des Wettbewerbs war es, die ästhetischen und technischen Mittel des Internets einzusetzen, um Sprache zu gestalten und neue Ausdrucksformen zu entwicklen." (Sabrina Ortmann: Neu? Netzautoren. Erschinungsformen der Literatur im Internet) |
Die Ergebnisse beider Wettbewerbe sind überraschend
ähnlich: Enttäuschung auf allen Seiten.
Keine Prämierung 1927.
Kein erster Platz 1997, stattdessen nur zwei zweite.
Die ernüchterten Schlußfolgerungen lauten sehr einstimmig:
"Bedauerlich ist, daß auch dieses Preisausschreiben und tatsächlich, wie die Nachfrage ergeben hat, die Auffassung der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft von einer falschen Einstellung ausgehen. Vorhandene Dichterwerke geben auch hier wieder Maßstab und Richtlinien. Man übersieht, daß man es mit völlig neuen Ausdrucksmitteln zu tun hat." (Hans S. von Heister: Um ein Hörspiel. Randbemerkungen zum Preisausschreiben der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft. In: Der Deutsche Rundfunk, Heft 7/ 1927, S. 437) |
"Die Suche nach dem Neuen in den Netzen leidet immer noch darunter, daß viele, die ihr nachgehen, Ausschau halten nach dem, was sie kennen und in dem neuen Medium und im Gewand der neuen Technik wiedererkennen können. Sie suchen also in Wirklichkeit nach etwas Altem." (Michael Charlier: Was ist neu in der Netzliteratur? Referat zum 3. Internet-Wettbewerb) |
3. "Die Abgründe der Spekulation" die Theoriedebatte und ihre Mythenbildung
Die theoretische Diskussion hat sich auf die Suche nach dem wirklich "neuen" gemacht. Allerdings werden weniger die tatsächlichen Formen und Möglichkeiten der neuen Medien für die Kunst angesprochen, sondern eher hochfliegende Gedankenspielereien verfolgt.
3.1. "Und alles kommt zu allen" Demokratie!
Der erste Mythos ist der vom "demokratischen
Medium". Das wird für das Radio schon in dem oben zitierten
Gedichtabschnitt deutlich, wenn es heißt: "Und alles
kommt zu allen".
Rainald Goetz spielt mit dem Titel "Abfall für alle"
seines Online-Tagebuches auf diesen Punkt an.
Ich habe allerdings keinen Anteil an dieser ach so überreichen
Fülle, wenn ich kein Radio oder keinen Internetanschluß
habe. So werden sicher noch auf längere Zeit große
Teile der Erde vom "Netz" ausgeschlossen bleiben. Und
selbst wenn ein Internetanschluß vorhanden ist, hat längst
nicht jeder die Fähigkeit, aus dem unübersichtlichen
Wust genau das herauszufischen, was für ihn wichtig ist.
3.2. "Überall in der Welt bin ich" - Freiheit!
Der zweite Punkt hängt eng mit dem ersten zusammen. In "demokratischen" Medien ist selbstverständlich jeder frei. Der Verfasser des obigen Gedichts fühlt sich mit Hilfe des Radioapparats "überall in der Welt". Als ich vor etwa fünf Jahren zum ersten Mal "surfte", war ich auch ganz begeistert, plötzlich in Rom "zu sein" oder in Portland. Aber letztendlich macht es doch keinen großen Unterschied. Oder?
3.2.1. Befreiung durch Netzliteratur
Speziell die "Netzliteratur"-Debatte
kennt zusätzlich noch viele andere Aspekte von Freiheit -
oder besser: von "Befreiung". Da gibt es die "Befreiung
vom linearen Erzählen", die "Entmachtung des Autors"
, die Befreiung des Autors
von seinem Verleger, "keine Hierarchisierung [mehr] zwischen
Primär- und Sekundärtexten"
und natürlich die Freiheit des Lesers, sich aktiv an der
(Mit-)gestaltung des Textes zu beteiligen.
Sicher sind einige dieser Punkte durchaus wert, daß man
über sie nachdenkt. Wie steht es beispielsweise mit dem linearen
Erzählen? Gibt es hier nicht tatsächlich Auflösungserscheinungen
(vgl. "Riven")?
Auch, daß sich der Autor von seinem Verleger befreien kann,
indem er seine Texte übers Internet direkt vertreibt, sowie
der Tatsache, daß Primär- und Sekundärtexte enger
miteinander verknüpft sind, so daß man sicher manchmal
nicht mehr sagen kann, welcher welcher ist, sind einzusehen.
Der Punkt "Entmachtung des Autors" hängt zusammen
mit dem des "Lesers als Produzent", auf den ich detaillierter
eingehen muß.
3.2.2. "Der Leser als Produzent"
Was die aktive, freie und schöpferische
Mitgestaltung des Lesers am Text betrifft, so lassen sich durchaus
derartige Modelle vorstellen.
Schon Brecht hatte in seiner Radiotheorie 1930 die Idee, den "Rundfunk
aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat
zu verwandeln". Er forderte "eine Art Aufstand des Hörers,
seine Aktivisierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent."
Er versuchte auch tatsächlich mit dem Hörspiel "Ozeanflug",
seine Idee zu verwirklichen. Für das Radio blieb dies jedoch
Utopie. Mußte es wohl auch, da das Radio nur eine einsträngige
Kommunikation vom Sender zum Empfänger ermöglicht.
Mit dem Internet ist eine beidseitige Kommunikation möglich.
Der Empfänger kann gleichzeitig zum Sender werden. Also kann
tatsächlich der Leser zum Autor werden.
Praktisch sieht es jedoch im Moment meist so aus, daß der
Leser nur soweit als Autor mitarbeiten darf, wie ihm erlaubt wird.
Beispielsweise wird bei der "Aaleskorte"
behauptet, man könne sein eigenes Drehbuch zusammenstellen.
Im Endeffekt klickt man blindlings herum, ohne eigentlichen Einfluß
auf die Geschichte an sich. Was bei Brechts Entwurf nebenbei
gesagt ja nicht anders war.
3.3. "Mit kurzen Ladezeiten" - Regelpoetik
In der Diskussion über die "Netzliteratur" wird also oft und gern über "Freiheit" und "Befreiung" gesprochen. Manche Aspekte können ja auch tatsächlich als solche begriffen werden. Gleichzeitig mit der Propagierung dieser "Befreiungen" wird jedoch in Bezug auf die Literatur oft eine strikte Regelpoetik angewandt. Obwohl kaum jemand brauchbare Definitionen liefert, scheint doch jeder Theoretiker eine ganz strikte Vorstellung davon zu haben, was "Netzliteratur" ist (obwohl er meist nicht sagt, was).
Hieraus resultiert wohl auch die anfängliche Enttäuschung über das Ergebnis des Wettbewerbs. |
"So suchte und sucht die Ars Electronica im Net nach der Videokunst, die Hamburger Kunsthalle suchte dort im letzten Jahr zusammen mit dem SPIEGEL nach der Konzept-Art [,] die ZEIT suchte mit IBM nach der Literatur und ich habe mitgesucht." (Michael Charlier: Was ist neu in der Netzliteratur? Referat zum 3. Internet-Wettbewerb) |
Ein deutliches Beispiel zum Thema Regelpoetik liefert auch Sabrina Ortmann. In ihrem Aufsatz "Neu? Netzautoren. Erscheinungsformen der Literatur im Internet" wird sie zwar dem eigenen Anspruch, eine "momentane Bestandsaufnahme mit deskriptivem Charakter" zu geben, in keiner Weise gerecht, dafür antwortet sie in ihrem letzten Absatz auf die selbstgestellte Frage "[W]as ist denn wirklich webgemäß und lesergerecht?": "Qualitativ gute, schnell zu erfassende Texte auf übersichtlichen Seiten mit kurzen Ladezeiten."
4. "Wir werden sehen" - Definitionsbedarf
Radio Internet: zwei "neue"
Medien und die Literatur. Ein kurzer Blick auf die Theoriedebatten
hat gezeigt, daß um zwei Medien, deren Auftauchen 70 Jahre
auseinander liegt, ganz ähnliche Erwartungen, Zweifel und
Enttäuschungen kreisen.
Weiter als Willy Haas sind wir jedoch schon allemal, der, einige
Jahrzehnte vor dem großen Hörspielboom, konstatierte:
"Doch behauptet man, aus dem Radio werde eine sogenannte
neue Kunst entstehen. Möglich. Wir werden sehen."
Im Internet gibt es jetzt schon was zu sehen.
Und es wird auch schon fleißig (sehr fleißig) darüber
geschrieben.
Als den größten Mangel in der "Netzliteratur"-Theoriedebatte
empfanden wir bei unserer Beschäftigung im Seminar allerdings,
daß keine zureichenden Definitionen gegeben werden.
Was ist "Netzliteratur"?
Was ist im Unterschied dazu "Hyperfiction"?
Noch diffiziler wird es bei dem Versuch, die verschiedenen untersuchten
"Texte" begrifflich unter einen Hut zu bringen. Klar
ist nur, daß alle irgendwie zu unserem Thema "Netzliteratur"
gehören, aber damit ist es auch schon vorbei. Jeder untersuchte
Text ist völlig anders als der andere.
Fazit: Es gibt noch viel zu tun.
Weiteres Fazit: Es macht Spaß!